Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
würde er gar nicht erst erreichen.
Er blickte den bläulich-grauen Rauchkringeln seiner Zigarette nach. Es war angenehm, so nach Mitternacht, etwas angeregt und mit schärferen Sinnen als sonst, zu bedenken, dass die Welt groß und wandelbar und vielfarbig war und dass sie das kurze Menschenleben derart ausfüllen konnte, dass kein Raum mehr für Langeweile und düstere Stimmung blieb. Dort, im dunklen Zimmer, schlummerte Erna warm, rein, makellos, und ein lieblicher Strom floss von ihr durch die nächtlichen Straßen bis hierher, direkt in sein Herz. Außerdem war da noch die Mutter, Gertrud, die jetzt gewiss glühendheiß dalag, die offenen Augen ins Dunkel gerichtet, ungeduldig in vergeblicher Erwartung. Sie war auch fähig, eine Dummheit anzustellen. Sie besaß ein zu hitziges Temperament.
Nein, grübelte Rost, das Leben duldete keine langen Berechnungen, hier entschieden das Temperament und das stürmische Blut.
»In bestimmten Situationen«, begann Felix von Brunnhof erneut, »hilft auch eine Reise. Eine einfache Reise, ein Ortswechsel.Sie verlassen ja Ihren Wohnort und damit jede Beziehung zu vielen Dingen, die ihr Leben hier vergiftet haben. Am neuen Ort verlieren diese Dinge jede Bedeutung, und man wundert sich, wie sie einem zuvor die Ruhe hatten rauben können.« Damit wollte er mehr sich als andere überzeugen. Aber noch beim Reden merkte er, dass seine Worte keine absolute Wahrheit enthielten. Er wusste mit Sicherheit, dass die Reise, die er plante, ihn eine bestimmte Sache nicht vergessen lassen würde. Er würde vor ihr fliehen, aber sie würde ihn überallhin verfolgen, und er würde es doppelt schwer haben.
Den Kopf in beide Hände gestützt, saß Fritz Anker mit rundem Rücken da und schwieg. Sein künftiges Leben drückte ihn wie eine schwere Last. Schon jetzt fühlte er sich müde. Immer würde er sich alles erkaufen müssen, mit gutem Geld. Mit seiner eigenen Persönlichkeit – als Mensch – würde er nie etwas erreichen. Er war offensichtlich rein gar nichts wert. Er selbst, mit all seinen Gliedern, war nichts als ein Truggebilde, ein Vakuum. Sein wahrer Wert maß sich am Inhalt seiner Brieftasche. Und nun würde er bald nach Hause gehen müssen, in das leere Zimmer, das in allen Tonlagen schrie vor Leere, dass es einen um den Verstand bringen konnte. Er war allein mit sich selbst, ohne Zuflucht.
Er warf seinen Tischgefährten einen zerstreuten Blick zu, nahm sie wie aus weiter Ferne wahr. Nein, sie waren genauso fremd wie alle anderen Menschen auf Erden. Nichts verband ihn mit ihnen. Er blieb allein, einsam bis zum Wahnsinn. Er würde sein Leben allein ertragen müssen, ohne Hilfe, ohne jede Partnerschaft mit einem Mitmenschen. Abrupt stand er auf, warf eine Münze auf den Tisch und steuerte grußlos die Tür an, mit langsamem, ungelenkem Gang. Er machte den Eindruck eines betagten Mannes, der seine letzten Schritte tut.
Rost verabschiedete sich mit einer flüchtigen Entschuldigungvon dem Offizier und eilte Fritz Anker nach. Irgendwie hatte er Angst, ihn jetzt allein zu lassen. Er tat ihm leid.
Am Ausgang warf er einen Blick nach rechts und nach links die menschenleere Straße entlang und erkannte sofort die Silhouette von Anker, der mit seinem schwankenden Gang noch nicht weit gekommen war. Er holte ihn mit ein paar raschen Schritten ein und ging dann schweigend neben ihm her. Fritz Anker beachtete ihn nicht, merkte vielleicht gar nicht, dass er da war. An der Ecke, wo die Straße auf einen weitläufigen Platz mit einem hohen Denkmal in der Mitte mündete, schien Anker einen Moment zu überlegen. Dann trat er auf den Platz, schlenderte übers Pflaster.
»Gehen Sie nach Hause?«
Anker drehte ein wenig den Kopf zur Seite und ging weiter, ohne zu antworten.
»Der Mensch kann seinem Leben auch ein Ende setzen«, flüsterte Rost.
»Was? Das heißt, natürlich. Daran habe ich noch nicht gedacht. Hat sich noch nicht ergeben.«
»Es ist gar nicht so schwer.«
Der Platz war leer, gut erleuchtet. Darüber wölbte sich ein tiefdunkler, fast schwarzer Himmel, mit feuchten Sternen übersät. Die krausen Baumwipfel über dem hohen Zaun des großen Parks, der den Platz auf der anderen Seite abschloss, bewegten sich nicht. Nächtliche Frische entströmte den Tiefen dieses Parks wie einem Kellergewölbe. Die Häuserreihe gegenüber hatte blinde Fenster. In dieser nächtlichen Stille stand der Mensch dem Tod näher als dem Leben. Der Tod verlor weitgehend seinen Stachel, wurde simpel,
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