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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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Großzügigkeit, Herzenswärme, ohne jede Pedanterie oder Kleinlichkeit. Seine breite und auffallend hohe Stirn war schon von tiefen Furchen durchzogen.
    Rost gefiel er auf den ersten Blick. Er lud ihn ein mitzuhalten, was Schor sofort fröhlich lachend annahm, ohne jegliche Höflichkeitsfloskeln, als wären sie alte Freunde. Rost hob sein Glas: »Auf das Wohl der Mädchen, die nicht nach Zwiebeln riechen!«, zum Gelächter der anderen.
    »Und du«, wandte er sich an Max Karp ihm gegenüber, »ist sie schon erschienen?«
    »Was denn?«
    »Na, die Literaturzeitschrift für junge Leute natürlich.«
    Karp verzog das Gesicht zu einem verlegenen und etwas bitteren Lächeln. »Nein, nicht erschienen«, quetschte er zwischen den Zähnen hervor.
    »Besser so. Dann also auf das Wohl der Jugendzeitschrift, die niemals erscheinen wird!«
    »Sie wird erscheinen!«, fauchte Karp erschrocken, wie von der Tarantel gestochen.
    Fritz Anker sagte kein Wort. Er saß neben Rost und kaute appetitlos an seinem weißlichen Hühnerfleisch. Ab und zu warf er einen raschen Blick auf den einen oder anderenTischgenossen und fand sich fehl am Platz. Mit diesen Typen hatte er nichts gemein. Diese Gesichter haben nichts Wahres an sich. Jede Visage mit ihrer Falschheit. Jeder bemüht sich, die Miene nach Bedarf zu verstellen. Jeder versucht, eine Rolle zu spielen, wie ein anderer auszusehen, nur nicht er selbst zu sein. Sie besitzen nicht den Mut, ihr eigenes Gesicht zu zeigen, nur Masken über Masken. Dieses Fräulein Fritzi hier, auf deren Zügen ein grundloses Lächeln erstarrt ist, das nicht mehr weichen will, und dieser Bursche mit Krawatte, mit dieser Frisur und dem Backenbart und all den anderen Merkmalen, die einer grotesken Operette entnommen zu sein scheinen, und der heisere Riese da mit dem verlebten, unrasierten Gesicht, der sich unaufhörlich räuspert, als wolle er sofort losschmettern, und dieser Max Karp spielt sich groß auf, als wäre es unter seiner Würde und daher eine große Gnade, sich dem Tisch mit diesen unwürdigen Gesellen anzuschließen – eine Komödie! Ja, dieser Schor hat als einziger menschliche Züge. Und Rost.
    Draußen dämmerte es mittlerweile grau in grau. Der Abend war schon da, und irgendwo begann jemand Harmonika zu spielen, eins der neuen Couplets. Jemand lachte dröhnend auf, gefolgt von einer dünnen, kreischenden Stimme, und ein anderer rief die Straße hinunter: »Zwei fünfzig, Karl, sage ich dir: Zwei fünfzig, mehr nicht!«
    Trotzdem überkamen ihn, Fritz Anker, ein leiser Schauder süßer Trauer und eine flüchtige Erinnerung an unverbundene und völlig verwischte Bilder und Worte aus den Tiefen seiner Seele, ohne dass er sie je da gespürt hätte. Dort saß die wahre, tiefe Substanz, so ewig wie die Welt, doch diese Gesichter um ihn her – sie entbehrten jeder Substanz. Er kaute mechanisch weiter und trank hin und wieder einen Schluck Bier, ohne etwas zu schmecken. In sich verankert wie alle Einsamen, fiel es ihm schwer, aus sich herauszukommen, sich selbst zu vergessen. Die fröhlichen und auchmal etwas boshaften Sprüche, die über den Tisch hin und her flogen, erreichten ihn nur von fern, wie leere Hülsen.
    Anker schob den Teller ein paar Handbreit von sich, ließ einen Großteil des Fleischs und des Reises darauf liegen. Befremdet starrte er auf die Tischgenossen, die genüsslich und angeregt weiteraßen. Ihn beschlich das undeutliche Gefühl, während seines Hierseins anderswo etwas zu verpassen. Hätte es ihm nicht an dem nötigen Mut gefehlt, wäre er aufgestanden und gegangen. Obwohl diese Menschen hier ihm fernstanden und völlig gleichgültig waren, schützten sie ihn vor sich selbst, aber ihre Anwesenheit empfand er wie eine schwere Last auf dem Rücken. Ihr Lärmen, Lachen und Reden, das Geschirrklappern und die Essensgerüche wurden ihm immer unerträglicher. Er sah sich hilfesuchend um. Sein Blick fiel unwillkürlich auf Schor zu seiner Linken, der sich gerade den Mund mit der Serviette abwischte.
    »Nichtigkeiten!«, dachte Anker laut, ohne es zu merken. »Diese Nerven, man muss sie überwinden, denn sonst –«
    Schor drehte ihm das Gesicht zu: »Nerven? Nerven sagten Sie?«
    Anker erschrak. In seiner Verlegenheit packte er seinen halbvollen Bierkrug und trank ein paar Schlucke.
    »Sie gehen anscheinend nicht viel unter Menschen«, sagte Schor.
    »Nicht besonders viel. Das heißt … Die jungen Menschen unserer Generation sind keine vorzügliche Gesellschaft. Degeneration

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