Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
Vom Netzwerk:
aufgrund von Übersättigung, ich meine in Westeuropa. In Russland ist das anders. Und Sie selbst, will sagen, mögen Sie die Massen?«
    »Das kann ich nicht sagen. Vielleicht mag ich sie nicht, aber ich kann mich ihnen jedenfalls anschließen, an ihrer Seite für die Verbesserung der Lage kämpfen.«
    »Der materiellen Situation, und danach?«
    »Danach der geistigen.«
    »Damit sie letzten Endes ebenfalls degenerieren vor lauter Kultur. Eine teuflische Rache.«
    »Bis sie da mal angelangt sind! Das Volk hat noch eine gesunde Basis. Und noch einmal: Wenn das wirklich der einzige Weg ist, dann hat es keinen Sinn, ihn zu behindern.«
    »Aber man muss ihn auch nicht unterstützen, beschleunigen.«
    »Kommt natürlich aufs Temperament an. Unter uns gesagt, geht es mir weniger ums Ziel als um den Weg dahin – den Krieg. Ich sehe die Massen gern, wenn diese blinde, grauenhafte Kraft bei ihnen erwacht, wie ein ausbrechender Vulkan, wie ein glühender Lavastrom.«
    »Sie machen sich also gern falsche Illusionen.«
    »Das kann man nicht sagen. Das stimmt nicht ganz. Ich stelle mir Tausende, Hunderttausende von Menschen vor, die auf der Landstraße marschieren, um eine Stadt zu erobern – eine furchtbare Schlagkraft von Tausenden Köpfen, ein grandioses Schauspiel!«
    »Nicht besonders menschlich.«
    »Menschlich? Machen Sie Witze? Das Menschliche in seiner reinen, idealen Form, an das die Toren glauben, gibt es gar nicht! So ist der Mensch nun mal von Natur aus – Eigennutz, mittelbarer oder unmittelbarer, spontane Ausbrüche, Launen – kein Gott, und man braucht auch keinen Gott. Und das Ziel? Wenn die wilde Bestie erwacht, die in jedem von uns steckt, ziehe ich dieses Ziel jedem imperialistischen Ziel vor. Hier möchte ich helfen, den Gipfel der Begierden zu erreichen, über dem es nichts mehr gibt. Nur das Nichts.«
    Reb Chaim Stock stellte sich gegenüber an den Türpfosten und überwachte die Arbeit mit zufriedenem Lächeln. Kellner Alfred lief geschäftig hin und her, räumte leere Teller abund brachte volle an ihrer Stelle. Sein Gesicht war hochrot und schwitzte, und das Käppchen saß ihm schief auf dem kurzgeschorenen Schädel. Wie am Spieß schrie er: »Zwei Liter Wein! Fünf Forellenfilets! Drei Cognac!« Der Heldentenor hing auf seinem Stuhl wie ein Fleischkloß, bis zum Hals vollgestopft mit Speis und Trank. Sein Gesicht bekam die Farbe angelaufenen Zinns. »Versteht ihr«, krächzte er, »nach der Vorstellung, die ein großer Erfolg war – fünf Liter auf meine Rechnung! Das war in Boston mit einer Schauspieltruppe. Und was für ein Wein! Was denkt ihr wohl«, wandte er sich triumphierend an die ganze Runde, »alles weg! Als wäre es nichts als Sodawasser.«
    Markus Schwarz wollte die neben ihm sitzende Fritzi kneifen, aber sie rief halb abwehrend, halb willig: »Nimm die Hände weg!«
    »Ich lade dich ein, Tenor«, rief Rost, »so viel du trinken kannst, und wenn’s zehn Liter werden.«
    »Wir sind hier nicht in Amerika, Mister«, der Heldentenor griff sich an die Kehle, »meine Stimme …«
    »Deine Stimme«, lachte Rost, »wird keinen Schaden nehmen. Auf meine Verantwortung!«
    »Nein, heute nicht.«
    »Und du, Karp? Warte, ich hab einen Vorschlag, wenn du fünf Liter trinkst, nein, nur drei, dann rück ich hundert Kronen für die Literaturzeitschrift raus, ihr seid alle meine Zeugen! Einverstanden?«
    Malwine, die kurz zuvor die Theke verlassen hatte und nun an der Seite stand, um die Gruppe zu beobachten, versuchte Karp mit Kopfschütteln und Gesten davon abzuhalten, aber es entging ihm. Er war schon leicht angesäuselt und die Sache kam ihm nicht so schwer vor.
    »Gut, hinterlege hundert Kronen bei« – er musterte die Tischgenossen – »bei Schor, er soll den Schiedsrichter machen.«
    »Man muss zuerst die Zeit bestimmen«, bemerkte Schor, »ich welchem Zeitraum?«
    »Innerhalb einer Stunde.«
    »Nein, das ist zu wenig.«
    Letzten Endes einigte man sich auf anderthalb Stunden. Rost stellte noch die Bedingung, dass man die drei Liter Wein gleichzeitig bringen solle und er erst von jeder Flasche probieren wolle, ob der Inhalt auch nicht mit Wasser gepantscht war. Dann flüsterte er Anker etwas ins Ohr, und der reichte ihm einen Hundert-Kronen-Schein, der vor aller Augen an Schor weitergegeben wurde. Außerdem wurde bestimmt, dass Karp unterdessen nichts essen durfte. Nun legte Karp los. Zuerst kippte er zwei Gläser nacheinander hinunter, mit geschlossenen Augen, als stürze er sich in einen tiefen

Weitere Kostenlose Bücher