Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
Aber schon bald war das Kopfkissen zu hart, er bekam davon Kopfschmerzen, sagte er. Auch die Decke sei zu dünn, die Unterlage zu fest. Bernhard hatte die falschen Hausschuhe gebracht und den Schal vergessen, den er plötzlich dringend brauchte. Und als an den Grundbedürfnissen nichts mehr zu wünschen übrigblieb, bat er um Bücher und seine Lesebrille. Selbstverständlich mußte die Süddeutsche Zeitung abbestellt werden und jeden Tag nach der Post gesehen werden; es hätten ja Rechnungen dabei sein können, die dringend bezahlt werden müssen. Die Nachbarn, die sich während Raimondos ausgedehnter Reisen immer um alles gekümmert hatten, kamen plötzlich nicht mehr für diese Erledigungen in Frage. Alles mußte Bernhard tun.
Raimondo hatte jeden Tag andere Aufträge für ihn, aber was immer es war, Bernhard tat es. Kaum etwas war wirklich wichtig, und ich hätte mir gewünscht, daß er sich nach dem Schulstreß ein bißchen Zeit für sich genommen hätte, aber nein: Wenn Raimondo etwas brauchte, bekam er es – und ich hielt meine Klappe, obwohl es meiner Ansicht nach völlig offensichtlich war, daß es dem Angeschlagenen nicht um die Dinge an sich ging, sondern darum, daß sich jemand mit ihm beschäftigte.
Oma folgte ihrem Sohn wie ein Schatten. In der ersten Woche gingen sie zusammen in die Klinik, dann in Raimondos Wohnung, um die Post aus dem Briefkasten zu nehmen und entweder die Blumen zu gießen oder der Putzfrau das Geld hinzulegen. Dann nahmen sie ein Mittagsschläfchen hier zu Hause, bis es am Nachmittag zum Kaffee wieder in die Klinik ging.
Sobald Raimondo in die Lauterbachklinik kam, sah der Tagesablauf wie folgt aus: Morgens fuhren sie in die Klinik – da die Osterseen südlich des Starnberger Sees liegen und nur mit dem Auto zu erreichen sind, mieteten wir für diese Zeit eins –, um ihren ersten Besuch abzustatten. Dann fuhr Berni wieder in die Stadt – Fahrzeit fünfundvierzig Minuten –, um Raimondos Aufträge zu erledigen. Dann fuhr er wieder hinaus, um Lydia abzuholen. Die Abende verbrachte er dann in Raimondos Wohnung, weil er, wie er sagte, alles, was an Adrians Krankheit erinnerte, außer Sichtweite schaffen wollte: Er zog die Betten ab, ließ den Bettbügel, den Nachtstuhl und den Rollstuhl abholen, den sich Raimondo von der Caritas geliehen hatte, gab Windeln, Latexhandschuhe, Schnabeltasse und all den anderen Kram, den er zum Pflegen von Adrian gebraucht hatte, zum Weiterverwerten an die Aids-Hilfe.
Natürlich kam irgendwann in diesen Tagen tatsächlich ein Brief vom Rechtsanwalt der Familie des Verstorbenen, der Raimondo aufforderte, eine Aufstellung über den gesamten Nachlaß zu erbringen, weil ihm sonst rechtliche Schritte drohten. Die Frist war knapp bemessen. Bernhard erzählte Raimondo nichts davon, sondern ließ sich von der Aids-Hilfe einen Rechtsanwalt empfehlen, der in diesen Angelegenheiten spezialisiert war – ist es nicht erschreckend, daß es jemand gab, der mit so was auch nur Erfahrung hatte? Die Dinge standen tatsächlich nicht so rosig für Raimondo. Wie das ausgehen würde, war schwer vorherzusehen. Was wenigstens momentan für ihn sprach: Er war nicht vernehmungsfähig und würde es auch noch einige Wochen bleiben. Man konnte die Sache also zumindest hinauszögern. Danach allerdings würde er sich sein Recht tatsächlich erstreiten müssen. Die Sache dauert immer noch an; ich könnte ihn später fragen, obwohl, heute ist sicher nicht der geeignete Moment darüber zu sprechen.
Die ganze traurige Angelegenheit hatte etwas Positives zur Folge: Bernhard und seine Mutter verbrachten viel Zeit miteinander. Ich bekam mit – bei den schnellen Frühstücken und kurzen Abendessen –, daß Raimondos Zusammenbruch Mutter Lydia sehr an den Tod ihres Mannes erinnerte. Da sie ohnehin nahe am Wasser gebaut hatte, reichten jetzt Kleinigkeiten aus, um sie zum Weinen zu bringen. Zudem hatte sie seit der Beerdigung das ständige Bedürfnis, sich mitzuteilen.
Die Kehrseite der Medaille: Ich kaufte ein, kochte, räumte jedem alles hinterher. Zugegeben, das war nicht wirklich neu, denn mein Mann hatte sich noch nie sehr am Haushalt beteiligt. Aber wieso konnte er das alles plötzlich für Raimondo: Betten beziehen, aufräumen, umräumen, putzen, einkaufen?
Ich fand es nicht besonders nett, daß Bernhard mir nie die Gelegenheit gab, Raimondo zu besuchen. Nicht, daß er auch mein Busenfreund gewesen wäre, aber binnen einer Woche hatte ich das Gefühl, an der Sache überhaupt
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