Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
Tod war das Schrecklichste am Leben.
„Keine gute Ausrede“, sagte Mutter. „Du kommst in das Alter, wo sich ein schwarzer Anzug rentiert.“ Ja, das sagte sie, ich erinnere mich genau. Als ich sie verdutzt anschaute, setzte sie sogar noch hinzu: „Wer weiß, wie lange ich es noch mache.“
„Okay. Um wieviel Uhr findet das statt?“ fragte ich, und Raimondos Gesicht hellte sich auf.
„Um elf“, antwortete meine Mutter.
„Da hab ich Schule, Mama. Es ist der letzte Schultag. Um die Zeit verteile ich gerade die Abschlußzeugnisse. Ich krieg unmöglich wegen der Beerdigung des Liebhabers meines Freundes frei.“
Dieses Argument leuchtete jedem ein, Raimondo sackte daraufhin wieder in sich zusammen.
„Gut. Dann gehe eben ich“, sagte meine Mutter. „Sie werden es nicht wagen, sich mit einer alten Frau an Herrn Raimondos Seite anzulegen.“ Sie streichelte über Raimondos Arm und stach dann energisch in den Kartoffelschnee; Edvard und mir klappten noch einmal die Kinnladen herunter, Malvyn schaute uns fragend an. Meine Mutter!
Bald machte Kim Anstalten, nach Hause zu gehen. Die Atmosphäre war bedrückend und Hannah müde. Wenn sie erst mal schlief, war es problematisch, mit ihr nach Hause zu kommen. Keiner versuchte, sie zurückzuhalten, der Tag war turbulent genug gewesen.
Sobald die beiden Gören aus der Tür waren, drückte ich Malvyn den Kellerschlüssel in die Hand: „Oben im rechten Regal findest du eine Luftmatratze. Raimondo übernachtet heute im Arbeitszimmer, du schläfst im Wohnzimmer.“
Malvyn hob an, zu widersprechen, aber ich schaute ihn scharf an: „Keine Widerrede“, sagte ich und gab ihm sanft eins hinter die Löffel.
„Immer auf die Kleinen“, maulte er und folgte.
Es dauerte, bis alle durchs Bad geschleust und dann in ihren Zimmern und Betten verstaut waren. Unsere Wohnung war schön, aber es fehlte ein zweites Bad. Schon mit meiner Mutter und Malvyn im Haus war es eng geworden, jetzt, mit einem dritten Gast, wurde es langsam problematisch. Wenn wenigstens die Toilette vom Bad getrennt wäre. Vielleicht hatte Edvard recht, und es war wirklich an der Zeit, daß wir in ein Haus umzogen.
Als Edvard endlich ins Bett kam, machte ich gleich das Licht aus. Es war spät geworden, und ich mußte wie immer früh raus.
„Wie geht es dir?“ fragte mich Edvard noch einmal.
„Beschissen“, murmelte ich, „aber laß uns schlafen. Ich will jetzt nicht mehr darüber reden.“
Kurz darauf begann Edvards Atem länger zu werden; ich konnte einfach nicht einschlafen. Raimondo ging mir nicht aus dem Kopf. Die Zeit marschierte im Gleichschritt voran, aber mein Schlaf blieb aus. Um ein Uhr morgens nahm ich den Wecker und krabbelte aus dem Bett. Die Dielen knarzten, aber ich wußte, wo ich hintreten mußte, um Edvard nicht zu wecken.
Auch Raimondo schlief nicht, das hörte ich an seinem Atem, aber er reagierte auch nicht, als ich zu ihm unter die Decke kroch. Ich drückte mich nah an ihn heran, er fühlte sich kalt und kraftlos an.
„Raimondo. Geh nicht weg“, flüsterte ich ihm ins Ohr. „Ich brauche dich noch.“
Ein Beben erfaßte seinen Körper, es breitete sich aus wie die Wellen, die man erzeugt, wenn man einen Stein in einen Teich wirft. Bald schaukelte das ganze Klappsofa, und dann spürte ich Tränen auf meinen Arm tropfen. Raimondo war wieder da.
Lydia *
Es hatten sich nur wenige Menschen versammelt, um Abschied von Adrian zu nehmen, ein paar Familienmitglieder – Herr Raimondo wußte nicht einmal zu sagen, ob es alle waren – und nur ganz wenige ihrer gemeinsamen Freunde. Die Eltern hätten ihren Sohn am Wochenende beerdigen lassen können, aber sie wollten es an einem Vormittag unter der Woche tun, damit kaum einer von seinen Freunden dabei sein konnte.
Als ich mit Herrn Raimondo in die Kapelle trat, stürmte ein junger Mann auf uns zu und drohte ihm Prügel an, wenn er der Zeremonie beiwohnen würde.
„Schämen Sie sich denn nicht, vor einer alten Dame so zu sprechen?“ fragte ich ihn.
Er ballte die Faust und hielt sie Herrn Raimondo unter die Nase. Ich hatte nie so viel Haß in den Augen eines Menschen gesehen; mir fuhr ein Schrecken in den Unterleib.
Nach der Andacht gingen wir ans Grab. Immer wieder wurden wir geschubst und getreten, jemand stach Herrn Raimondo mit einem Regenschirm in die Seite.
Auch die Ansprache am Grab fiel sehr kurz aus. Die Eltern hatten offensichtlich kein Interesse an einer schönen Zeremonie. Der Pfarrer schaufelte gerade etwas
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