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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Niederwieser
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Aber wenn wir über Vertrauen, über Verständnis für den anderen, über Freiräume sprachen, ja, sogar über Rollenverteilung, dann wurden wir immer wieder von den Übereinstimmungen überrascht.
    Es war sehr interessant, in ihre Gedankenwelt einzutauchen. Manchmal kam es mir vor, als würden alte Menschen wieder zu kleinen Kindern. Man mußte sie beschäftigen, man mußte ihnen sagen, was sie tun sollten, wann sie essen und vor allem, was sie essen sollten.
    Zum Beispiel bekam ich erst nach einer Woche mit, daß sie Medikamente nehmen mußte. Ihre Leber war angeschlagen, ihr Augendruck war zu hoch, und ihr Kreislauf machte ihr auch zu schaffen – vermutlich durch die Chemotherapien. Sie hätte eine ganze Palette von Tabletten nehmen sollen, vergaß es aber meist. So übernahm ich das und legte sie ihr zu den Mahlzeiten zurecht. Von da an nahm sie sie auch brav ein. Darüber hinaus jubelte ich ihr Vitamin E unter, Gelée Royal und das Algenextrakt, auf das Kim seit einiger Zeit schwörte.
    Mit manchem war sie auch tatsächlich überfordert: Elektronik zum Beispiel, selbstverständlich mit dem Computer. Sie hatte anfänglich sogar Schwierigkeiten, sich an unser schnurloses Telefon zu gewöhnen. Wenigstens lernte sie, den Fernseher und das Radio einzuschalten; wenn sie aber bestimmte Musik hören wollte, mußten wir die CD einlegen, damit sie nur noch auf die Starttaste drücken mußte.
    Das wäre mir ja noch verständlich gewesen, aber einmal rüttelte sie im Supermarkt ganz verzweifelt an einem Einkaufswagen und rief: „Edvard, die Mark geht nicht raus. Ich habe doch eine reingesteckt. Warum geht die nicht raus?“ Dabei stand sie nur am falschen Wagen, unseren hatte sie aus den Augen verloren.
    Sie war nicht nur Gast; Bernhards Mutter bemühte sich sehr, sich an unserem Haushalt zu beteiligen. Jeden Morgen nahm sie sich etwas anderes vor: Silber putzen, Socken stopfen, Anzüge aufdampfen. Das meiste davon war unsinnig, denn kaputte Socken gab ich in den Müll. Um meine Anzüge kümmerte sich die Reinigung und um das Silber und alles andere unsere Vanja. Aber hätte ich es ihr verbieten sollen?
    Schwieriger gestaltete sich die Tatsache, daß sie manchmal, wenn ich nach Hause kam, bereits gekocht hatte – einfache Gerichte, versteht sich, so etwas wie Fleisch mit brauner Soße und Salzkartoffeln. Das Problem dabei: Sie kochte ohne Salz, Gewürze waren ihr fremd, und – vielleicht weil sie nicht mehr so gut sehen konnte – es stimmten die Maßangaben oft nicht, was zum Beispiel dazu führte, daß Mehlklümpchen in der Soße schwammen. Ich hätte darüber weggesehen, denn Bernhards Mutter hatte es verständlicherweise viel Mühe gekostet. Bernhard hätte es wahrscheinlich nicht mal bemerkt, denn Essen betrachtete er sowieso nur als notwendiges Übel, aber Hannah hatte eine sehr direkte Art, auf diese kleinen Ausrutscher aufmerksam zu machen: „Iiiii, da schwimmen kleine Popel in meiner Soße!“
    Mutter Lydia fügte sich in unseren Alltag. Es war tatsächlich so simpel, wie ich es Berni versprochen hatte: Sie unterhielt und beschäftigte uns, gab uns aber auch genügend Zeit, die Dinge zu tun, die wir sonst auch taten, zudem entpuppte sie sich als bessere Oma, als ich es mir hätte wünschen können. Nicht zuletzt war es ihr zu verdanken, daß Hannah endlich das Zählen lernte. Bernhards Mutter kam auf die Idee, die Zahlen auf Wäscheklammern zu schreiben und diese an eine Leine zu knüpfen, um sie dann mit Hannah so lange zu sortieren, bis das kleine Ding kapierte, daß die zwei vor der drei kam und nicht umgekehrt.
    Und noch etwas führte sie ein, woran weder Herr Oberlehrer Bernhard gedacht hatte noch ich: Wenn sie Hannah Geschichten vorlas, in denen Tiere vorkamen – und es kamen in allen von Hannahs Lieblingsbüchern Tiere vor, vornehmlich Katzen –, dann fragte Bernhards Mutter immer, welche Laute sie von sich gaben, und Hannah lernte, sie nachzuahmen. Und nicht nur das, denn bald lernte Hannah, den Spieß umzudrehen: Beim Essen, beim Spazierengehen, im Supermarkt, beim Friseur, überall gab sie die unterschiedlichsten Laute von sich, und jeder mußte erraten, um welches Tier es sich handelte. Hannah wurde zu einem wandelnden Zoo. Da ihr die Laute ähnlich gut gelangen wie einer Tröte das Klavierspielen, kann man sich vorstellen, wie sehr sie ihre Umwelt damit amüsierte.
    Ja, all das führte dazu, daß aus Frau Moll bald „die Oma“ wurde, was mir auch wesentlich leichter über die Lippen kam. Lydia

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