Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
und die Hände darüber gefaltet. Ihr Kopf hing vornüber und ein schnarchendes Atemgeräusch war zu hören.
Ich lehnte mich mit verschränkten Armen an den Türrahmen und schaute sie an. Meine Mutter war so zerbrechlich und hilflos geworden. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, sie zu beschützen.
Lydia *
Meine liebe Divja!
Ich hoffe, es geht Dir gut, und meine Zeilen erreichen Dich an einem Ort der Ruhe und des Friedens. Hast Du Sai Baba meinen Brief schon geben können?
Du fragst Dich sicher, wie es mir geht. Nun, die Buben sorgen gut für mich. Edvard ist tatsächlich ein ganz feiner Mensch, Du hattest Recht. Obwohl er viel zu tun hat (ich weiß gar nicht, wie er das alles schafft!), nimmt er sich immer Zeit für mich. Wir waren schon oft in dieser prachtvollen Stadt unterwegs; sie zeigen mir die Sehenswürdigkeiten, scheuen dabei nicht mal das schlechte Wetter, das einfach nicht besser werden will. Wie schade nur, daß Theo nicht dabei sein kann; die Zeit hier hätte ihm bestimmt gefallen. Ich bin sehr erstaunt, woher ich all die Energie nehme: Ich gehe viel besser und halte auch länger ohne sitzen aus. Ob das Klima das ausmacht?
Bernhards Freund ist sehr aufmerksam. Er hat entdeckt, daß ich gerne in Cafés gehe, und so führt er mich ständig aus. Manchmal, wenn wir zu dritt unterwegs sind, laden wir Bernhard in einem Buchladen ab oder in einem Antiquariat, und Edvard zeigt mir ein neues Kaffeehaus. Er behandelt mich wie eine Prinzessin.
Beim ersten Mal habe ich vorgeschlagen, auf Bernhard zu warten, aber Edvard sagte: „Glauben Sie mir, das dauert länger, als Sie denken.“ Als ich ihn gefragt habe, warum er nicht warten wollte, sagte er: „Ich weiß, wenn ich neben ihm stehe, dann beeilt er sich. Aber ich will, daß er sich Zeit nimmt; Bücher sind sein Leben.“ Ist das nicht lieb? Edvard ist wirklich ein ganz feiner Mann.
Aber ich glaube, er genießt es auch, Zeit mit mir allein zu verbringen. Bernhard ist wirklich kein einfacher Mensch – oh, wie sehr mich die beiden an Theo und mich erinnern. Mein Junge ist zwar offener geworden, und ich habe den Eindruck, er würde mir gerne näher kommen, aber er schafft es nicht.
Stell Dir vor, Edvard wußte nicht mal etwas von der Verzichtserklärung, die Bernhard mich unterschreiben ließ, damit, wenn ihm etwas zustößt, Edvard alles erben kann. Er hat sich sogar für Bernhards Verhalten entschuldigt und angeboten, das rückgängig zu machen. Aber ich habe abgelehnt. Ich hoffe ja ohnehin, daß meinem Jungen nichts zustößt, aber selbst wenn, dann will ich nichts von ihm; ich brauche ja ohnehin nichts mehr.
Edvard hat mir auch erklärt, warum sich mein Junge so von uns zurückgezogen hat. Bernhard glaubt tatsächlich, wir würden ihm Vaters Tod anlasten. Was für ein Unsinn! Aber es ist ihm nicht beizubringen. Er ist eben genau so störrisch und nachtragend wie Theo. Er hat großes Glück, daß er an Edvard geraten ist. Ein anderer hätte nicht so viel Verständnis für ihn; Edvard erinnert mich sehr an mich selbst, als mein Mann noch lebte. Es sind schon besondere Männer, die andere Männer lieben. Stell Dir vor, Herr Raimondo kümmert sich seit Jahren um seinen Freund, der an dieser schrecklichen Krankheit leidet und vermutlich bald sterben wird – und das, obwohl sie nicht verheiratet sind. Das sollten die Politiker mal erfahren.
Ob ich Edvard das Du anbieten soll? Es ist so eigenartig, wenn er Frau Moll zu mir sagt. Was denkst Du?
Ich lerne hier interessante Menschen kennen. Mit Frau Birgit habe ich mich auf Anhieb verstanden. Du würdest sie sehr schätzen. Ich glaube, Du würdest sie eine „alte Seele“ nennen, sie ist so weise und voller Verständnis. Wir haben geredet, bis mir die Augen zufielen. Und weißt Du, was sie gesagt hat? Sie sagte, seitdem diese jungen Männer sich nicht mehr darum bemühen müssen, von der Öffentlichkeit akzeptiert zu werden, konzentrieren sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Beziehungen. Deshalb seien sie jetzt zu einer ganz neuen Qualität der Partnerschaft fähig. Morgen nachmittag will Frau Birgit wiederkommen und mir die Karten legen. Ich freue mich schon darauf.
Die Buben laden viele Freunde ein, fast jeden Tag haben wir Besuch. Am meisten freue ich mich, wenn Herr Raimondo kommt. Er erzählt mir so schöne Geschichten, was für ein sympathischer Herr. Ich kann sehen, wie sehr er unter der Krankheit seines Freundes leidet. Er redet nicht mal darüber.
Ich habe auch viel Spaß mit der kleinen Hannah.
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