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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Niederwieser
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Edvard hatte sie gebacken. Ich hätte es ja gerne selbst getan, aber als er mich in den Rezepten blättern sah, nahm er mir den Kasten einfach aus der Hand. Ehrlich gesagt, das Backen habe ich mit zunehmendem Alter verlernt.
    „Oh, diese Torte“, sagte er. „Wunderschön. Blaubeeren, stimmt’s?“
    Ich nickte und stellte sie ab.
    „Darf ich?“ fragte er. „Ich würde sie so gerne anschneiden. Erlauben Sie mir das?“ Schon nahm er mir das Messer aus der Hand, und flugs waren zwei dicke Stücke herausgeschnitten. Eins davon stellte er vorsichtig auf meinen Teller – es war mir viel zu groß –, das andere auf seinen. Dann leckte er sich die Sahne von den Fingern und stach hinein. Herrlich anzuschauen, daß auch ein patenter Herr wie er seine Schwächen hatte. Ich hätte ihm stundenlang zuschauen können.
    Das erste Stück verschlang er mit wenigen Bissen. Nur ein Anstandsbröckchen ließ er auf seinem Teller zurück.
    „Nehmen Sie“, sagte ich und schob die Torte näher an ihn heran. „Sie muß weg. So frisch wie jetzt schmeckt sie morgen nicht mehr.“
    Er schaute mich mit leuchtenden Augen an.
    „Wer weiß, wann Sie mal wieder eine gebacken kriegen“, setzte ich nach, um meine Aufforderung zu bekräftigen.
    Er schnitt noch ein Stück ab und schaufelte es auf seinen Teller. Dabei erzählte er mir, wie er als Kind immer Blaubeeren hatte pflücken müssen und welche Mühe damit verbunden war: „Diese kleinen Dinger. Man mußte so hart dafür arbeiten, um nur einen Mundvoll zu bekommen.“ Ich konnte mir gut vorstellen, warum ihn das gar nicht begeistert hatte.
    „Auch wir haben früher oft Blaubeeren gepflückt“, erzählte ich ihm. „Und wenn ich heute welche esse, muß ich an die Sonntage denken, als die Kinder noch klein waren und zu Hause um den Kaffeetisch saßen … Einen Cognac nach dem Tee?“
    „Gerne, Signora.“
    Zwischendurch vergaß ich, daß ich mich nicht in meinen eigenen vier Wänden befand. Dort stünde ein Dujardin unter der Spüle, den Divja inzwischen nur noch zum Kochen verwendete. Hier, bei meinem Sohn, gab es nur Kristallkaraffen mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten darin. Ich stand vor der Bar und wußte nicht, wohin ich greifen sollte. „Herr Bortalozzi, ich fürchte …“
    Er sprang auf. „Setzen Sie sich. Ich kenne mich hier aus. Darf es auch ein Schlückchen für Sie sein?“
    Ich nickte und trat zurück. „Aber nur ein ganz kleines.“
    Er nahm eine Karaffe nach der anderen, zog die gläsernen Stöpsel heraus und schnupperte daran. Sein Gesicht veränderte sich mit jedem Geruch. Wie konnte er das nur unterscheiden?
    Was immer er mir eingoß, es floß sehr sanft meine Kehle hinunter. Ich trank selten Alkohol, aber dieser hier schmeckte mir.
    „Es dürfte ein Hennessy XO sein“, sagte er, leckte sich galant über die Lippen und strich danach seinen Schnauzbart glatt.
    „Sie kennen sich wohl aus mit alkoholischen Getränken“, sagte ich.
    „Ach, man tut, was man kann. Im Alter beschäftigt man sich mit dem einen oder anderen. Es bleibt nicht aus, daß man dazulernt. Aber dafür leben wir doch, nicht wahr, gnädige Frau?“ Ich mochte sein Lächeln. Es lag so viel Wärme darin. Und doch sah ich seinen Schmerz, den er an diesem Tag schlecht übertünchen konnte.
    „Es freut mich, daß Sie mich besuchen kommen, Herr Bortalozzi. Ich bin froh, daß Sie mir ein wenig Ihrer sicher sehr kostbaren Zeit opfern.“
    „Aber Signora Lydia. Sie sind so gut zu mir. Ich muß mich bei Ihnen bedanken. Möchten Sie nicht endlich Raimondo zu mir sagen? Bitte.“ Wieder schoß mir das Blut in die Wangen, und mein Herz klopfte vor Aufregung.
    „Wenn Sie das wünschen“, sagte ich. „Also gut, dann … Herr Raimondo.“ Es war mir furchtbar unangenehm. Oder war es nur so aufregend? Ich wollte schnell ablenken und fragte: „War Ihr Termin denn erfolgreich?“ und war mitten ins Fettnäpfchen getreten – dabei hätte ich es ahnen müssen.
    „Mein Freund, es geht ihm nicht gut.“
    Ich schaute ihn an. Mit seinem runden Gesicht, dem Schnurrbart und den großen Augen sah er an guten Tagen aus wie ein junger Seehund. In diesem Moment wirkte er verwelkt und ausgedörrt. Es tat mir leid, daß ein so guter Mensch so viel Leid erfahren mußte. Wäre er mein Kind gewesen, ich hätte ihm zum Trost meine Hand ans Gesicht gelegt. Aber er war ein erwachsener Mann und ich eine Frau. Es wäre unschicklich gewesen.
    Herrn Raimondos Augen füllten sich mit Tränen. Es war ihm unangenehm, denn er

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