Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
die kleine Rebellion wieder unter Kontrolle bringen konnten. Danach gab es Kundgebungen vor der Kneipe, nächtliche Straßenpartys, Demonstrationen am Tag. Obwohl keine Zeitung darüber berichtet hat, ist der Funke des Aufstands auf andere Städte in Amerika übergesprungen. Seither feiern wir dieses Ereignis jedes Jahr, um auf Diskriminierung aufmerksam zu machen, um zu demonstrieren, daß es uns gibt und daß auch wir Rechte haben.“
Oma lauschte meinem kleinen Vortrag sehr aufmerksam.
„Nehmen Sie nur mal Raimondos Situation. Das würde Ihnen nie passieren, oder sagen wir mal, Sie könnten sich wenigstens davor schützen, weil Sie einen etwaigen Geliebten heiraten können. Das können wir nicht. Was Adrian angeht, hat Raimondo keine Rechte. Aber die Eltern, die ihren Sohn schon Jahre nicht mehr gesehen haben und nichts über ihn wissen, dürfen alles entscheiden: Medikamente, Beerdigung, Trauerfeier, alles. Und wenn sie Raimondo böse wollen, jagen sie ihm hinterher sogar noch den Nachlaßverwalter an den Hals. Schon seit Jahren warne ich ihn davor, aber er hat diesbezüglich taube Ohren.“
Ich sah, daß ihr etwas auf der Zunge lag. Aber sie sagte nichts. Ich glaube, es war das beste, was sie, als fast siebzigjährige Frau mit streng katholischem Hintergrund leisten konnte: zuhören, ihre Bedenken für sich behalten, im Hause ihres schwulen Sohnes sich mit seinem Lebenspartner über den CSD unterhalten.
Kurz vor vier kam Bernhard nach Hause. Er setzte sich zu uns und trank einen Cappuccino und aß das letzte Stück Blaubeertorte. Seine Mutter beobachtete ihn genau; ich hätte zu gern gewußt, was in ihr vorging.
Als Bernhards Telefon läutete, ging ich ran; er nahm nur selten selbst ab.
„Bornheimer.“
„Hallo, Edvard. Ich bin’s, Divja.“
„Schon wieder zurück?“ Ich nahm das Telefon mit an den Tisch.
„Nein, nein. Ich bin noch in Indien. Deswegen rufe ich auch an.“ Es hörte sich an, als stünde sie in einer Telefonzelle an der Ecke. „Ich bin eingeladen worden, das Onam-Fest zu feiern, deshalb würde ich gerne noch ein bißchen länger bleiben. Ich dachte mir, wenn es Ihnen nichts ausmacht …“
„Aber nein. Das ist gar kein Problem“, sagte ich und schaute in die Runde, Bernhard und seine Mutter sendeten fragende Blicke zurück. „Wir verstehen uns blendend, und Bernhards Mutter geht es hier gut. Wollen Sie mit ihr sprechen? Moment mal.“ Ich reichte den Hörer weiter.
„Warum ruft sie an?“ fragte Bernhard, während sich seine Mutter mit ihrer Freundin unterhielt.
„Sie würde gerne noch etwas länger in Indien bleiben und fragt, ob wir deine Mutter noch bei uns behalten können.“
„Wie lange denn? Du weißt, daß Malvyn nächsten Samstag zurückkommt.“
„Ich hab nicht gefragt. Es handelt sich sicher nur um ein paar Tage. Apropos Malvyn, er hat vorhin angerufen. Wir müssen ihn heute abend zurückrufen. Hörte sich an, als müßte er mal mit jemandem reden.“
„Warum? Was ist passiert?“
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich was wegen diesem David, den er kennengelernt hat.“
„Du meinst den Typen, der Malvyn …“, er flüsterte, „rasieren wollte?“
Ich nickte. „Wie gesagt, ich habe mich gerade mit deiner Mutter unterhalten, als er anrief. Er war schon die fünfte Unterbrechung innerhalb einer Stunde. Deshalb habe ich ihn auf heute abend vertröstet.“
„Sie läßt schön grüßen“, sagte Bernhards Mutter. „Seid ihr denn sicher, daß ihr mich noch ertragen könnt?“
„Aber natürlich“, sagte ich.
„Wie lange will Divja denn noch bleiben?“ fragte Bernhard, der Pragmatiker.
„Sie sagte etwas von September“, antwortete Oma.
„September!“ sagte er, es klang wie: „O, mein Gott, ich sterbe!“
Lydia zog den Kopf zwischen die Schultern, Berni sprang vom Tisch auf, ging ins Arbeitszimmer und knallte die Tür zu. Ich war es ja gewohnt, daß mein Professorchen manchmal solche Anfälle hatte, aber Oma sah sehr betreten aus.
„Bestimmt Ärger in der Schule“, sagte ich und streichelte ihre Hand. „Bis heut abend lacht er wieder.“ Dann stand ich auf und folgte ihm.
„Sag mal, hast du sie noch alle?“ zischte ich Bernhard an, damit Oma es nicht hörte. „Was soll dieser Abgang? Deine Mutter fühlt sich sowieso wie eine Belastung.“
Er hatte sich auf dem Klappsofa ausgestreckt und ein Bein auf die Rückenlehne geschlagen, ein Arm lag über den Augen, als hätte er Migräne. „Das ist sie ja auch.“
„Ach ja? Wie denn? Womit
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