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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Niederwieser
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wendete sich ab, zog das Tuch aus der Brusttasche seines Jacketts und hielt es sich vors Gesicht.
    Ich konnte nicht anders, ich mußte aufstehen, mich hinter ihn stellen und ihm meine Hände auf die Schultern legen, mehr wagte ich nicht – abends dann bat ich Theo, mir dafür zu vergeben.
    Herr Raimondo weinte. Er weinte ganz fürchterlich. Es durchschnitt mir das Herz, ihn so zu sehen. Aber ich war auch froh, etwas für ihn tun zu können. Ich drängte ihn nicht, auch als er sich beruhigt hatte, fragte ich nicht nach. Wenn er sprechen wollte, dann sollte er es von sich aus tun. Es schickte sich nicht, im Leid anderer zu baden und es durch Neugier zu vergrößern.
    „Adrians Eltern sind aufgetaucht“, sagte er mit dünner, brüchiger Stimme. „Die ganzen Jahre haben sie sich nicht um ihren Sohn gekümmert. Er wird bald sterben, deshalb haben die Ärzte sie informiert.“ Wieder quollen Tränen aus seinen Augen. „Die Eltern haben mich beschimpft. Dort an seinem Bett. Ich sei schuld an seiner Krankheit, sagten sie, es sei alles meine Schuld. Und jetzt“, preßte er durch das Taschentuch hervor, „jetzt haben Sie mir auch noch verboten, ihn zu besuchen. Sie haben die Ärzte angewiesen, mich nicht mehr zu ihm zu lassen.“ Und wieder bäumte sich unter meinen Händen der schwere Körper auf. Ich beugte mich vor und drückte ihn fest an meinen Schoß, so wie ich früher meine Kinder gehalten hatte.
    „Das ist eine Gemeinheit“, sagte ich, als er sich beruhigt hatte. „Das dürfen sie nicht tun.“
    Er nahm meine Linke und drückte seine Wange an sie, dann gab er ihr einen Kuß und ließ sie los. „Doch, das dürfen sie“, erklärte er mir. „Sie haben das Recht durchaus auf ihrer Seite.“
    Ich setzte mich wieder.
    „Ich bin nur der Mensch, der ihn seit fünf Jahren liebt“, sagte er, und sein Blick schweifte ab. „Ich habe nichts weiter getan, als ihn gepflegt. Ich bin bei ihm gesessen, wenn er Fieber hatte, habe das Bett abgezogen, wenn er seinen Darm nicht mehr kontrollieren konnte. Ich hab ihn ins Krankenhaus gefahren und bin nächtelang bei ihm gesessen, wenn er eine dieser Infektionen hatte, die ihn fast umgebracht hätten. Aber ich bin nicht verwandt, und ich bin nicht mit ihm verheiratet, daher hab ich keine Rechte.“
    Das konnte doch nicht sein, sagte ich mir. Das widersprach jedem Sinn für Menschlichkeit. Dagegen mußte man sich doch wehren können.
    Herr Bortalozzi schaute mich fragend an. „Was mach ich bloß, wenn mein Adrian jetzt stirbt? Er wird mich bei sich haben wollen. Ich kann ihn doch nicht alleinlassen!“
    Mir fiel keine Lösung ein. Es empörte mich, aber hätte ich das gesagt, es hätte ihm nicht geholfen. „Sie sind ein guter Mensch, Herr Raimondo. Sie haben alles getan, was Sie tun konnten.“
    Wie leer diese Worte klangen, merkte ich erst, als ich sie ausgesprochen hatte. Ich hatte mein Leben lang versucht, Theo alles zu geben, und als er dann starb, fühlte ich mich schuldig. Was man tut, ist nie genug.
    Er hatte die Hände auf den Tisch gelegt und saß nun wieder wie ein Schuljunge auf seinem Stuhl, ein Schuljunge, der gerade für etwas bestraft wurde, was er nicht angestellt hatte. Ich schob meine Hand näher an ihn heran, wagte es aber nicht, ihn zu berühren. Dann schaute er mich an und ergriff meine Hand, zog sie nah an sich heran, legte sie sich aufs Herz. Die Tränen flossen wieder, still und dick.
    Als er den Griff lockerte, stand ich auf und zog ihn ins Wohnzimmer, beugte mich zu dem CD-Spieler hinunter und schaltete ihn an. Es lag noch Josef Strauß darin; Edvard hatte sie mir erst am Morgen eingelegt, damit ich sie hören konnte, während ich Staub wischte.
    Im Nu drang ein Wiener Walzer aus den Lautsprechern. Jetzt war Raimondo der verdatterte Schuljunge, der beim Tanzschulabschluß seiner Partnerin gegenüberstand und nicht wußte, was er tun sollte. Ich legte seine Linke an meine Hüfte, nahm seine Rechte und begann, mich mit ihm zu drehen. Ein paar Takte später hatte er mich fest im Griff und führte. Er zog und schob mich, wurde immer leichter, immer weicher. Ich versank in der Gewalt dieses tapsigen Bären, der im Rhythmus der Musik alle Schwerfälligkeit verlor und sich zu einem wirbelnden Derwisch entpuppte. Obwohl nicht jünger, war Raimondo besser und gewandter als die Partner in meiner Tanzschule. Er war nicht so hölzern, nicht so steif, nicht so sehr auf das Richtigmachen bedacht, sondern es schien, als ginge es ihm einzig darum, sich und mich mit

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