Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
Hallmanns Worte hörten sich einfach schrecklich an, denn sie bedeuteten nichts anderes, als dass sie dann, wenn Anna das Buch ihren Enkeln zeigen konnte, längst tot war.
»Na, na, wer wird denn weinen?« Die Rentnerin reichte ihr ein Küchentuch. »So überwältigend ist dieser alte Schinken doch nun auch nicht. Schau mal, die Stockflecken und dann hier, da haben die Mäuse dran rumgeknabbert.« Sie deutete auf eine Stelle am Buchrücken, die tatsächlich ein wenig angeknabbert aussah, doch wahrscheinlich nicht von einer hungrigen Maus.
»Es ist wunderschön!«, entgegnete Anna, während sie sich die Tränen von den Wangen tupfte. »Aber Ihnen geht es doch gut, oder? Ich meine, Sie schenken es mir nicht, weil …«
»Warum sollte es mir schlecht gehen?«, entgegnete Frau Hallmann ein wenig verwundert. »Keine Sorge, das hier ist kein Abschiedsgeschenk. Ich gehe fest davon aus, dass ich lebend ins neue Jahr kommen werde – es kann nur sein, dass ich mir bei all dem fetten Essen eine Gallenkolik hole, aber selbst das haut mich nicht um! Da habe ich schon viel Schlimmeres mitgemacht.«
Anna lächelte nun wieder und knüllte das Papiertuch zusammen. »Vielen Dank, das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.«
»Dann warte mal ab, wenn du erst mal zu Hause bist. Ich bin sicher, dass deine Eltern und dein Bruder ebenfalls ein Geschenk für dich haben, vielleicht eines, das dieses alte Buch bei weitem übertrifft.«
Anna schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Und ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wie ich diese Festtage aushalten soll. Mit Jonathan wird es schön sein wie immer, aber sonst …«
»Sag das nicht. Manchmal geschehen zu Weihnachten Wunder, und wenn man etwas will, schafft man es auch. Breite einfach deine Arme aus, und heiße das Weihnachtsfest und deine Familie willkommen, alles andere ergibt sich von allein. Und wenn deine Eltern nicht freundlich zu dir sind, sei einfach du freundlich zu ihnen und zeige ihnen, wie das geht. Und wenn das nicht hilft, hast du immer noch deinen Bruder. Die Liebe eines Kindes ist das Kostbarste, was man bekommen kann. Das ist auch der Grund, warum ich mich mit diesen Koffern abschleppe. Die meisten Geschenke darin sind für meine Enkel. Erwachsene mögen Freude heucheln können, doch Kinder freuen sich ehrlich – oder auch nicht, aber da weiß man dann wenigstens, dass man danebengegriffen hat. Vielleicht würde es uns allen guttun, auch wieder ein bisschen das Kind in uns zu entdecken.«
Bevor Anna etwas dazu sagen konnte, hupte es von unten.
»Ah, das Taxi ist da. Dann sollte ich wohl lieber runtergehen, sonst fährt der Zug noch ohne mich.«
Rasch räumte Anna Tasse und Teller weg, dann trug sie Frau Hallmanns ersten Koffer nach unten. Auf halbem Weg kam ihr der Taxifahrer entgegen, der sie breit anlächelte.
»Ihre Großmutter wartet sicher schon auf mich, was?«
Anna zog verwundert die Augenbrauen hoch. Dann bemerkte sie das Schild am Henkelgriff, auf dem in großen Druckbuchstaben der Name Hallmann stand.
»Ich bin nicht Frau Hallmanns Enkelin«, stellte sie richtig und setzte hinzu: »Aber Sie haben recht, sie wartet schon auf Sie. Und seien Sie gewarnt, da oben stehen noch drei große Koffer für Sie.«
»Das kenne ich schon!«, entgegnete der Taxifahrer lachend. »Ist jedes Jahr dasselbe, aber mir würde ohne die Tour echt was fehlen!«
Damit stiefelte er weiter, und Anna war sicher, dass seine Freundlichkeit nicht auf Weihnachten zurückzuführen war, sondern darauf, dass er die alte Frau mochte.
Zehn Minuten später standen sie alle unten vorm Haus, beäugt von einer der Nachbarinnen, die sich hinter ihrer Gardine verbarg, um möglichst ungesehen ja nichts von dem Geschehen auf der Straße zu verpassen.
»Nun, jetzt bleibt uns beiden wohl nichts anderes übrig, als uns gegenseitig Lebewohl zu sagen und uns ein gutes Fest zu wünschen«, sagte Frau Hallmann, während der Taxifahrer das letzte Gepäckstück auf den Rücksitz hievte.
Anna nickte seufzend, dann umarmte sie die Rentnerin. »Passen Sie auf sich auf und feiern Sie schön. Und kommen Sie mir ja wieder.«
»Und du hab ein bisschen Spaß! Die Stadt ist voller junger Männer, die sich freuen würden, mit dir ein wenig Zeit zu verbringen, Kindchen.«
»Dieses Thema hatten wir doch schon«, entgegnete Anna lachend. »Ich will erst mein Studium beenden, und dann kümmere ich mich um eine Beziehung.«
»Warte nur nicht zu lange. Gute Männer sind in Windeseile
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