Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
warf sie einen skeptischen Blick auf die Anzeigetafel. Mehr als der Hinweis, dass der Zug heute 50 Minuten später abfahren würde, stand da nicht, kein Hinweis darauf, ob jetzt noch weitere zehn Minuten hinzugekommen waren oder der Zug unterwegs schneller geworden war und man ein paar Minuten abziehen konnte.
Doch schließlich kam die erlösende Durchsage. »Vorsicht an Bahnsteig drei, es fährt ein IC 2355 nach Binz, über Berlin Hauptbahnhof.«
Anna umklammerte den Griff ihres Trolleys und blickte erwartungsvoll auf die weiß-rote Zugschlange, die von einer roten Lok langsam in den Bahnhof gezogen wurde.
7. KAPITEL
E ndlich im Zug! Gemütlich und schick war der IC zwar nicht und man sah ihm an, dass er diese Strecke schon viele tausend Mal gefahren war, aber Anna war das in diesem Augenblick egal. Zwar verspürte sie keine Ungeduld, nach Berlin zu kommen – es war eher wie mit einer unliebsamen Hausarbeit, man musste sie hinter sich bringen –, aber in dem Waggon war es warm und der Sitz einigermaßen weich. Und Anna hatte nicht mehr verliebt lächelnde Frauen im Blickfeld, die ihren Freunden Nachrichten schickten.
Dafür nahm in der benachbarten Sitzreihe eine ziemlich gestresst wirkende Mutter Platz, die an der Hand einen etwa fünfjährigen Jungen hatte, der plötzlich einen furchtbaren Hustenanfall bekam. Entschuldigend blickte seine Mutter zu Anna, die eigentlich nicht vorgehabt hatte, ihn anzustarren, es aber doch irgendwie getan haben musste. »Wir sind auf dem Weg nach Binz«, erklärte sie mit einem leichten sächsischen Akzent. »Er hat Asthma, und ich hoffe, dass es ihm da ein wenig bessergeht.«
Diese Offenbarung traf Anna so überraschend, dass sie zunächst nichts sagen konnte. Doch die Frau schien genau das zu erwarten, also presste Anna ein: »Das wird es bestimmt!« heraus, womit die Mitreisende zufrieden war und ihren Jungen aus seiner dicken Jacke pellte.
Während die Mutter nach erfolgreichem Jackenverstauen Trinkflaschen und Uno-Karten hervorzog und ihren Sohn ermunterte, eine Partie mit ihr zu spielen, fläzte sich ein ziemlich beleibter Mann neben Anna.
»Wollen Sie auch nach Wittenberg?«, fragte er redselig, worauf Anna den Kopf schüttelte. War sie wirklich so lange nicht mehr Zug gefahren, dass sie nicht mehr wusste, dass die Leute auf langen Reisen unbedingt Unterhaltungen anfangen wollten? Oder waren ihre Mitmenschen wegen Weihnachten so kontaktfreudig?
»Nein, ich steige später aus«, antwortete sie, zog dann ihren MP 3 -Player hervor, den sie für 20 Euro in einem Supermarkt gekauft hatte, und schob sich die Stöpsel in die Ohren. Sie hatte keine Lust, Musik zu hören, und sie hatte auch nichts dagegen, den Gesprächen im Zug zu lauschen, doch ein Teil davon wollte sie nicht sein. Vielleicht würden die Stöpsel, auch wenn keine Musik durch sie hindurchfloss, sie vor weiterer Kontaktaufnahme schützen …
Bei ihrem Nebenmann schien es schon mal zu funktionieren, denn er wandte sich nun der Frau mit dem kleinen Jungen zu. Im Gegensatz zu Anna wollte er natürlich Näheres über die Krankheit des Kindes wissen, und die Frau, offenbar froh, sich endlich ihr Leid von der Seele reden zu können, gab bereitwillig Auskunft. Anna war sicher, dass sie so viel nie über sich und ihr Kind preisgeben würde, aber wahrscheinlich wirkte der Geist der Weihnacht auch hier. Und noch wahrscheinlicher war, dass die Frau sich dachte, diesen Mann sehe ich ohnehin nicht wieder, also, was soll’s?
Als der Zug anruckte, hatten natürlich noch nicht alle Passagiere ihre Plätze gefunden. Mit gehetztem Blick irrten sie durch den Gang, während die leicht verzerrte Ansage des Zugbegleiters durch die Lautsprecher tönte, mit der er die zugestiegenen Fahrgäste begrüßte.
Anna lehnte sich im Sitz zurück. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Frau Hallmanns Märchenbuch hervorzuholen, doch dazu hätte sie sich noch einmal erheben und den Trolley von der Gepäckablage hieven müssen. Also blieb sie sitzen, betrachtete die Häuser und versuchte, die Gespräche ringsherum zu ignorieren.
Als sie Halle ein Stück weit hinter sich gelassen hatten, überkam Anna eine bleierne Müdigkeit. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich den Kaffee nicht getrunken habe, ging es ihr durch den Sinn, während sie sich in die Jacke kuschelte. Aber das war egal, bis nach Berlin hatte sie noch ein bisschen Zeit, und die herumschwirrenden Gesprächsfetzen animierten ja doch nur dazu, die Zeit zum Schlafen zu nutzen.
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