Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
zurück.
»Schauen Sie mal nach draußen«, sagte er dann.
»Wie bitte?« Anna zog die Augenbrauen hoch.
»Schauen Sie aus dem Fenster!«
Erst jetzt fiel Anna auf, dass etwas nicht stimmte. Der Zug war so ruhig. Kein einlullendes Summen mehr, keine Gespräche. Nicht nur ihr Nebenmann und das Uno-spielende Mutter-Sohn-Gespann waren fort. Auch alle anderen Passagiere hatten den Zug verlassen.
Ein Blick aus dem Fenster zeigte einen Bahnsteig: Ostseebad Binz. BINZ ! Sie war mehr als nur eine Station über ihr Ziel hinausgefahren. Außerdem war es draußen stockfinster. Wie spät mochte es sein? Ihrem Verstand gelang es nicht, die Zahl der Stunden, die seit ihrer Abfahrt in Halle vergangen waren, zu zählen.
»Ach du Scheiße!«, platzte es verzweifelt aus Anna heraus. Sie schlug die Hand vor den Mund, schüttelte den Kopf, als könnte sie so den Anblick vertreiben, dann sah sie zu dem Kontrolleur.
»Und was jetzt?«
»Nun, eigentlich müsste ich Sie wegen Schwarzfahrens drankriegen«, entgegnete er leicht amüsiert. »Zumindest wäre Nachzahlen fällig.«
»Aber ich …«
»Sie haben geschlafen. Tief und fest. Wenn ich ehrlich bin, habe ich noch nie einen Menschen gesehen, der so weit im Land der Träume war. Wir hatten zusätzliche Verspätungen und fast einen kleinen Aufstand hier drinnen. Aber Sie haben geschlafen wie ein Murmeltier.«
»Echt?«, fragte Anna. »Ich meine, das mit dem Aufstand?«
»Wir mussten auf freier Stecke halten, weil die Gleise vereist waren. Immerhin haben wir in unserem Zug eine funktionierende Klimaanlage. Aber die Leute waren ziemlich aufgebracht und haben den Caddie, der ihnen Erfrischungen zur Beruhigung bringen sollte, mit Brezelstücken beworfen. War wirklich nicht nett.«
»Da … habe ich ja tatsächlich was verpasst.« Anna lachte peinlich berührt und wäre am liebsten geschrumpft und in der Ritze zwischen den beiden Sitzen verschwunden. Doch sie blieb groß, auch wenn sie sich gerade ein wenig wie Alice im Wunderland fühlte. Wie konnte ihr so was nur passieren?
»A …also, was kriegen Sie von mir?« Anna schnürte es den Magen zu. Wie viel mochte das kosten? Ihr Ticket nach Berlin war bereits ziemlich happig gewesen, aber sie hatte nicht mit dem unbequemen Regio fahren wollen …
»Lassen Sie mal«, sagte der Schaffner nun, und sein belustigtes Lächeln verwandelte sich in ein mitleidig freundliches. »Es ist schon schlimm genug, dass Sie heute Nacht wohl nicht mehr aus Binz rauskommen werden. Das Schneetreiben war zuletzt so heftig, dass wir schon Angst hatten, nicht mehr in den Bahnhof zu kommen.«
»Schneetreiben, sagen Sie?« Anna wirbelte herum und blickte erneut aus dem Fenster. Tatsächlich hatte sie das winzig kleine Detail übersehen, dass draußen immer noch die Flocken wirbelten – und zwar heftig!
»Ja, und was für eins! Würde mich nicht wundern, wenn sie heute Nacht noch den Rügendamm schließen. Ist richtig wild da draußen, sehen Sie bloß zu, dass Sie ins Warme kommen.«
Ins Warme war leicht gesagt. Wohin sollte sie gehen? Sie hatte nicht die geringste Ahnung von Binz, geschweige denn, wo man hier eine Unterkunft bekam.
Okay, es gab wohl zahlreiche Hotels hier, doch auch ohne das ungewollte Schwarzfahren bezahlen zu müssen, reichte ihr Geld nicht mal für ein B & B.
Und außerdem – sie hatte ihrer Familie gesagt, dass sie heute Abend kommen würde!
Sie sah auf die Bahnhofsuhr. 22 . 35 Uhr! Eigentlich hätte sie jetzt schon längst in Berlin sein sollen.
Gut, die Verspätung wäre eigentlich kein Beinbruch. Und die Ausrede »kein Netz« war ja auch nicht mal so weit hergeholt. Aber das Problem war, dass sie mehr als 200 Kilometer von Berlin entfernt war!
»Wissen Sie denn, wohin ich gehen könnte, ich meine … ich habe nicht viel Geld dabei und …«
»Na ja, die Hotels hier sind alle ziemlich teuer, und die wenigen, die es nicht sind, sind wahrscheinlich bis unters Dach ausgebucht. Es fahren viele Leute über Weihnachten weg, und da sind auch noch die Kurgäste.«
Trotz seines leichten Berliner Akzentes schien der Schaffner ein Einheimischer zu sein. »Nee, ich glaube, unter hundert pro Nacht kommen Sie nicht weg. Aber das sollte es Ihnen wert sein, denn im Schnee zu erfrieren ist sicher nicht die beste Lösung. Zumal ja sicher wer über Weihnachten auf Sie wartet.«
Ja, mein kleiner Bruder, dachte Anna.
»Und was ist mit diesem Zug hier? Der muss ja auch irgendwann mal wieder rausfahren, oder?«
»Natürlich wird er das,
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