Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
Also schloss sie die Augen, blendete die Stimmen ringsherum aus und ließ sich vom monotonen Zuggeräusch einlullen.
Wenig später befand sie sich mitten in einer verschneiten Landschaft. Sie war so perfekt, als sei sie geradewegs einem Buch entsprungen. Schneeüberzuckerte Bäume standen auf einer kleinen Anhöhe, Weidezäume rahmten einen schmalen, etwas ausgefahrenen Weg ein. Unter der Schneedecke lugte hin und wieder ein Stein oder ein vertrockneter Grashalm hervor. Fehlte nur noch, dass der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten über die Weide jagte. Doch Anna schien völlig allein zu sein, allein mit dem Schnee und dem Wind, der leise durch die Bäume strich und den Draht des Zaunes leicht erzittern ließ.
In ihrer Hand hielt Anna auch keinen ramponierten Trolley, sondern einen altmodischen Koffer, der wohl zu Zeiten ihrer Großmutter modern gewesen war. Der Aufkleber »Bahamas« störte darauf irgendwie, aber waren solche Reisen damals etwa nicht möglich gewesen?
Und dann der Mantel, den sie trug! Hellrot wie Vogelbeeren war er. Den Schnitt konnte sie nicht erkennen, weil sie ja nicht vor einem Spiegel stand, doch er bestand aus Wolle und an den Ärmeln wurde er von breiten Riegeln mit riesigem Knopf zusammengehalten. Sie trug hohe Stiefel und einen Rock. Vor ihr lag ein langer Weg aus Bäumen, Schnee und Weidezaun. Keine Häuser, keine anderen Leute.
Immerhin spürte sie keine Kälte, das Einzige, was daran erinnerte, dass es Winter war, war der Schnee. Von einem knorrigen Baum, den sie passierte, rieselten ein paar Schneeflocken herunter in ihr Haar, das ihr lang und offen über die Schultern fiel.
Immer weiter ging sie, bis vor ihr ein kleines Häuschen auftauchte. Auf den ersten Blick wirkte es wie aus einem Märchenbuch, nur in Farbe und 3 -D. Anna blieb stehen und betrachtete es. Wer mochte da wohnen?
Als sie weiterging, setzte die Dunkelheit ein. Der Himmel wurde bleiern, der Schnee grau. Der Weg vor ihr war schon bald nicht mehr zu erkennen. Doch das Licht leuchtete ihr weiterhin entgegen, wie der Schein eines Leuchtturms, der sie unweigerlich zu sich zog.
An dem Haus angekommen, erschien es ihr auf einmal riesengroß, als wäre sie unterwegs geschrumpft und zum Kind geworden. Die Klinke war unerreichbar hoch. Sie blickte an sich hinab, doch alles war wie immer. Wie hatte sie sich bei dem Haus so verschätzen können?
Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als anzuklopfen.
»Moment!«, rief eine Stimme aus dem Innern, dann ertönten Schritte. Ein Schlüssel wurde herumgedreht, ein Riegel zurückgeschoben. Die sich öffnende Tür gab den Blick auf einen alten Mann mit weißem Bart frei. Er trug Cordhosen und ein kariertes Hemd, in der Hand hielt er ein Geschirrtuch. Sein Gesicht wirkte leicht grimmig, so wie bei einer dieser gruseligen Weihnachtsmannmasken, mit der ihr Vater versucht hatte vorzugaukeln, dass es den Weihnachtsmann wirklich gab.
»Hallo, Mädchen, schön, dich zu sehen!«
Anna wollte etwas antworten, doch plötzlich zerrte jemand an ihr. Anna wandte sich um und erkannte einen Schatten. Dann stolperte sie zurück, landete mit dem Hintern im Schnee und …
8. KAPITEL
» H allo, Frollein?«
Jemand rüttelte sie an der Schulter. Anna schreckte hoch und riss die Augen auf. Im ersten Moment wusste sie nicht mehr, wo sie war. Nur langsam dämmerte ihr, dass sie sich im Zug befand. Tief durchatmend blickte sie sich um und sah in das Gesicht eines älteren Zugbegleiters, der ein wenig Ähnlichkeit mit dem Mann aus ihrem Traum hatte. Oder hatte sich das Traumbild nur verändert?
Als sie sich beim Aufsetzen den Ellenbogen stieß, merkte sie, wie real die Situation war.
»Mist«, schimpfte sie, lächelte den Fahrkartenkontrolleur verlegen an und murmelte eine Entschuldigung. Wahrscheinlich wollte er nur ihren Fahrschein sehen. Doch wo war eigentlich ihr Nebenmann geblieben?
»Einen Moment, ich habe ihn gleich«, sagte sie, während der Mann weiterhin bewegungslos neben ihr stand, und wühlte in ihrer Jackentasche herum.
Da sie den Schein nicht sofort fand, zog sie erst einmal das Handy hervor. Fünf verpasste Anrufe, meldete das aufleuchtende Display vorwurfsvoll. Anna ignorierte es, fand schließlich den leicht zerknitterten Umschlag in der anderen Jackentasche und zog die Fahrkarte hervor. »Hier, bitte schön!«
Der Schaffner schaute sie zunächst ernst an, dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er nahm das Ticket, sah es sich an, dann reichte er es ihr wieder
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