Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
aber solange sich das Chaos auf der Schiene nicht gelegt hat, stehen wir.«
Das bedeutete wohl, dass sie nicht hier drinbleiben durfte. Und eigentlich wollte sie es auch nicht. Verdammter Zug, warum schaukelt er die Leute bloß so in den Schlaf?, ärgerte sie sich, doch eigentlich war es ja ihre eigene Schuld. Sie hatte an einem Tag viel zu viel erledigen wollen und sich nicht auf die Reise konzentriert. Aber woher hätte sie denn wissen sollen, dass Frau Holle den Schnee tonnenweise über dem Land ausschüttet?
Sie zog also ihre Jacke über, verknotete ihren Schal und schlüpfte in ihre Handschuhe. Dann schulterte sie ihre Tasche, bedankte sich noch einmal bei dem Schaffner und verließ den Waggon.
Klirrende Kälte umfing sie. Bis auf einen frierenden Mann in orangefarbener Kluft, der einen Wagen voller Reinigungsutensilien bei sich trug, war niemand mehr auf dem Bahnsteig. Die Fußspuren der anderen Passagiere, die längst vor ihr den Zug verlassen hatten, waren von neuem Schnee bedeckt, genauso wie die zerknautschte Chipstüte, die ein wenig traurig unter dem Schnee hervorlugte. Auch sie saß hier unter den weißen Massen fest und konnte keinen günstigen Wind nutzen, um den Bahnhof zu verlassen und irgendeinen netten Vorgarten zu erreichen, wo sie sich an die kahlen Äste eines Baumes hängen konnte.
Das Bahnhofsgebäude wirkte auf den ersten Blick einladend, so hell und sauber – doch kaum stand Anna in der Halle, überfiel sie eine furchtbare Einsamkeit. Der Schalter für die Fahrkarten, der sich hier »Bahn-Agentur« nannte, und auch der Laden, in dem man Kaffee, Zeitungen und andere Dinge kaufen konnte, waren längst geschlossen. An der Tür der »Gaststätte zum großen Bahnhof« verkündete ein Zettel, dass diese wegen Bauarbeiten ebenfalls vorübergehend geschlossen sei.
Anna ließ sich ratlos auf einer der Wartebänke nieder und blickte nach draußen. Straßenlampen zerrten die Fassaden der gegenüberliegenden dreistöckigen Häuser aus der Dunkelheit. An beinahe jedem Balkon war Weihnachtsdekoration angebracht. Weihnachtsmänner, Schlitten, Eiszapfen und Sterne blinkten um die Wette. Davor wirbelten die Flocken. Auf der Wendeschleife vor dem Bahnhof lag eine dicke Schneeschicht, die untere Stufe der Treppe war nicht mehr zu erkennen.
Was sollte sie jetzt tun? Hier bis morgen früh warten? Oder versuchen, irgendwie nach Berlin zu kommen?
Frustriert schaute sie auf ihr Handy. Kein Netz. Die Nachricht über verpasste Anrufe blinkte sie vorwurfsvoll an. Außerdem hatte ihre Mutter oder wer auch immer, eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Diese konnte sie wegen des nicht existenten Empfangs aber nicht abhören. Wahrscheinlich war ihre Mutter außer sich vor Sorge.
Ein Münztelefon!, schoss es ihr durch den Kopf. Irgendwo hatte dieser Ort doch sicher eine Telefonzelle. Bei dem Empfang mussten sich die Leute doch irgendwie behelfen …
Nachdem sie noch einen Blick auf das bunte Blinken draußen geworfen hatte, griff sie nach ihrem Trolley und zerrte ihn zur Eingangstür. Draußen schlug ihr ein schneidender Wind entgegen. Anna kniff die Augen zusammen, versuchte, sich zu orientieren. Einen Münzfernsprecher sah sie nicht, aber vielleicht fand sie einen an der Straße. Rechts oder links, wohin sollte sie gehen? Sie entschied sich schließlich, der Straße in Richtung Stadtzentrum zu folgen – jedenfalls glaubte sie anhand der Beleuchtung, dass sie sich dem Zentrum näherte.
Schon bald stellte sie fest, dass sie viel zu leicht angezogen war. In Halle hatte es zwar auch geschneit, aber nicht so stark. Und der Wind war dort nicht mal halb so schlimm gewesen!
Mit gesenktem Kopf stemmte sie sich gegen die Böen, die von der See her kommen mussten. Vielleicht war es Einbildung, aber sie meinte, das Meer bedrohlich durch die Dunkelheit rauschen zu hören.
Wäre es Sommer, hätte sie vielleicht mit dem Gedanken gespielt, am Strand zu übernachten. Doch jetzt meinte sie schon nach wenigen Augenblicken, dass sie erfrieren würde. Der Schnee stand auf dem Gehweg beinahe kniehoch, und auf der Straße sah es nicht besser aus. Weit und breit war nichts von einem Schneepflug zu sehen.
Anna war den Tränen nahe. Da wollte sie ihrem Bruder eine Freude machen, und nun war sie hier. Gestrandet am Strand.
Nach einer Weile tauchten ein paar Einfamilienhäuser vor ihr auf. Eine Telefonzelle hatte auf dem Weg nicht gestanden, aber die Leute hatten gewiss Telefone.
Und dann das! Auf einmal fielen ringsherum
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