Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
sämtliche Lichter aus.
Anna blickte sich fassungslos um. Nirgendwo auch nur eine einzige Lampe! Nicht mal mehr irgendeine blinkende Lichterkette. Trug sie so eine furchtbare Aura mit sich herum, dass selbst der Strom vor ihr die Flucht ergriff?
Der Mond über ihr tat das immerhin nicht. Zwar war er von Wolken verschleiert, aber er schien tapfer und spendete immerhin so viel Licht, dass Anna nach einigen Augenblicken den Bürgersteig vor sich wiedererkannte und ihren Weg fortsetzen konnte. Mittlerweile spürte sie die Kälte bis tief unter ihre Haut, und sie fragte sich, ob es etwas brachte, zu rennen und vor dieser Kälte und dem ganzen Mist wegzulaufen. Doch dann stapfte sie auf eines der Häuser zu, dessen helle Fassade sich ein wenig von der Hintergrundschwärze abhob. Ob die Leute hier noch wach waren? Schwer zu sagen. Möglicherweise schliefen sie schon, aber vielleicht suchten sie auch gerade nach Taschenlampen und Kerzen, da sie ebenfalls vom Stromausfall überrascht worden waren.
Nachdem sie festgestellt hatte, dass nirgends ein Schild mit der Aufschrift »Bissiger Hund« angebracht war, fasste Anna sich ein Herz und öffnete die Gartenpforte. Ein wütendes Knurren empfing sie und ließ sie erschrocken zurückspringen.
Doch die Bedrohung kam nicht von diesem Hof. Der Nachbarshund, der sie offenbar während der ganzen Zeit beobachtet hatte, fühlte sich nun verantwortlich, sie zu vertreiben.
Im nächsten Augenblick brauste hinter ihr ein schweres Fahrzeug heran und machte direkt vor dem Haus halt. Ein orangefarbenes Blinken huschte über den Schnee und färbte die Fassade vor ihr. Anna drehte sich um. Ein Schneepflug. Das Licht blendete sie, doch wenig später verstummte der Motor, und vor ihr erschien – zwischen Blinken und Scheinwerferlicht – ein Schatten. Der Mann war ziemlich groß, trug eine orangefarbene Jacke mit Reflektorstreifen und eine Pelzmütze mit langen Ohrenklappen. So etwas hatte sie mal bei einem russischen Straßenhändler in Berlin gesehen.
»’n Abend!«, rief er, während er sich den Schnee von den Stiefeln stampfte. »Kann ich Ihnen helfen?«
Anna starrte ihn zunächst an, dann räusperte sie sich. »Ich wollte fragen, ob ich mal telefonieren dürfte.«
Fast glaubte sie, dass der Wind ihre Worte einfach weggeweht hatte. Doch irgendwie schienen sie die Ohren unter den dicken Fellklappen doch zu erreichen.
»Warum willst du denn telefonieren?«, fragte der Mann, während er in seiner Hosentasche wühlte. Anna ignorierte, dass er sie duzte, und hoffte auf ein funktionierendes Handy, doch es war lediglich ein Schlüsselbund, mit dem er an ihr vorbeiging und die Haustür aufschloss.
»Ich … ich bin im Zug eingeschlafen und komme jetzt nicht mehr weg.«
»Was?«, fragte der Mann verwundert.
»Sie hören richtig, ich wollte eigentlich nach Hause, aber nun bin ich hier, und ich muss unbedingt nach Berlin, weil ich das meinem Bruder versprochen habe und …« Als Anna merkte, dass die Hälfte ihrer Worte in Zähneklappern unterging, verstummte sie.
»Komm erst mal rein und erzähl mir dann, was los ist.«
Der Mann schloss die Tür auf und trat ein.
Lebkuchenduft, gemischt mit dem Geruch eines Tannenbaums, schlug Anna entgegen. Doch das war in diesem Augenblick unwichtig, denn die Wärme der Räume umfing sie und ließ ihr Gesicht kribbeln. Wie schön es doch war, in einem Haus zu sein!
Anna parkte ihren Koffer im Flur und ließ sich von dem Mann zum Küchentisch bugsieren. Er riss ein Streichholz an und entzündete damit eine Öllampe, die aussah, als hätte sie ein Zeitreisender aus dem vorigen Jahrhundert hier verloren.
»Erbstück von meinem Großvadder«, erklärte der Mann, als er Annas fragenden Blick bemerkte.
Wenig später tauchte eine Frau in der Küchentür auf. Fragend blickte sie zunächst Anna, dann den Mann an, mit dem sie wohl verheiratet war.
»Wer ist das?«
»Ich bin Anna Wagner«, stellte sich Anna schnell vor und spürte dabei, wie das Zähneklappern weniger wurde und ihre Gesichtsmuskeln ihr langsam wieder gehorchten. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich hier so einfach aufkreuze. Ich komme aus Leipzig und bin im Zug eingeschlafen, eigentlich wollte ich nach Berlin.«
»Berlin?«, fragte die Frau erschrocken. »Das ist aber weit weg.«
»Ich habe auch ziemlich tief geschlafen, und der Schaffner sagte mir, dass erst morgen früh wieder ein Zug geht, aber ich bin Studentin, und ich habe kein Geld für ein Hotel und eigentlich …«
»Hast
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