Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
Heiligtum zu lassen.
Anna war es furchtbar peinlich, dass sie die Nummer ihrer Mutter nicht im Kopf hatte. Und auch nicht auf einem Zettel in ihrer Tasche. Genau genommen hatte sie die Nummer nur in ihrem Handy gespeichert, seit ihre Mutter mit Gerd und Jonathan in ein neues Haus in Zehlendorf gezogen war. Das lag daran, dass meist ihre Mutter den Kontakt zu ihr gesucht hatte. Von sich aus hatte sie fast nie angerufen, und wenn, dann übers Handy, wo sie nur nach dem Kontakt »Mama« suchen musste. Die Nummer der alten Wohnung konnte sie immer noch, doch das nützte ihr jetzt nichts. Aber wenn sie das Handy erst mal geladen hatte, würde sie sie schon finden.
»Gut, wenn Sie die Nummer haben, kommen Sie wieder her.« Damit wanderten die Ohrstöpsel wieder in seine Lauscher und er in das Reich der Rhythmen.
Frustriert ließ Anna ihren Blick durch den Raum schweifen. Gab es hier irgendwo eine Steckdose? Vielleicht hätte sie gleich danach suchen und sich die Peinlichkeit des Nachfragens ersparen sollen. Der Tankwart hatte offenbar ohnehin schon auf Feiertag geschaltet.
Neben einer Sitzbank entdeckte sie schließlich ein Steckdosenpaar.
Ohne den abwesenden Techno-Fan noch eines Blickes zu würdigen, zerrte sie ihren Trolley zu der Sitzbank, ließ sich darauf nieder und zog den Reißverschluss auf.
Erstes Fach – nichts.
Zweites Fach – wieder nichts.
Dann eben im Hauptfach.
Anna hob das alte Märchenbuch vorsichtig von ihren Klamotten. Dann begann sie, den kleinen Kleiderhügel gründlich zu durchwühlen.
»Ich hatte es doch hier irgendwo hingesteckt«, murmelte sie beschwörend, als könnte sie auf diese Weise das Kabel hervorlocken wie ein Schlangenbeschwörer seine Kobra. Doch das Netzteil, ihre Rettung, zeigte sich nicht. Als sie am Boden des Trolleys angekommen war, dämmerte Anna das Unfassbare.
Sie hatte das Netzteil vergessen! Und damit konnte sie auch vergessen, dass sie das Handy geladen bekam!
Aber vielleicht war es ihr nur durch die Finger geschlüpft. Nicht bereit, die Hoffnung jetzt schon aufzugeben, begann sie erneut, sich durch ihre Sachen zu graben, tastete jeden Ärmel, jedes Hosenbein ab.
Doch das Ladegerät blieb verschwunden. Tränen stiegen ihr in die Augen. Warum das auch noch? Wie konnte sie nur das Ladegerät vergessen? Ihre Gedanken wanderten zu der Steckdose neben ihrem Bett im Wohnheim. Ja, dort steckte es. Aber das nützte ihr hier herzlich wenig. Diese verdammte kleine Kiste blieb schwarz, und wenn sie nicht jemanden fand, der dasselbe Gerät besaß und zufällig ein Ladegerät dabeihatte, sah es verdammt schlecht aus.
In dem Augenblick glitt ihr das Handy, das sich durch die ganze Suchakrobatik bereits gelockert hatte, aus der Hosentasche. Anstatt auf der Bank liegen zu bleiben, federte es aber von der Sitzfläche ab und fiel auf den Boden. Das klirrende Geräusch ging Anna durch und durch. Fast wagte sie gar nicht, es wieder vom Boden aufzuheben, weil sie ahnte, was passiert war. Der lange Riss über dem Display ließ Annas Herz für einen Moment aussetzen. Überprüfen, ob es trotzdem noch funktionierte, konnte sie nicht.
Hätte ich doch bloß nicht zugesagt, dachte sie verzweifelt. Wenn ich in Leipzig geblieben wäre, wäre alles gut gewesen, und ich müsste nicht diese Odyssee durchmachen.
Erst als sie jemand an der Schulter berührte, ebbte ihr Schluchzen ab. Mit verquollenen Augen erblickte sie die zunächst nur schemenhafte Gestalt eines Mannes. Doch als sich ihre Sicht klärte, entpuppte sich der Fremde als ein junger Mann mit braunem Haar, der sogar noch etwas jünger zu sein schien als sie selbst.
»Was ist denn los?«, fragte er und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Hat dich der taube Typ da hinten geärgert?«
Anna schüttelte den Kopf und registrierte im ersten Moment gar nicht, dass der Bursche vor ihr ebenfalls bei dem Tankwart abgeblitzt war. »Nein, ich … ich habe nur … die Nummer vergessen.«
Der Fremde runzelte die Stirn. »Was für eine Nummer?«
»Ist eine lange Geschichte«, entgegnete Anna und unterdrückte einen Schluchzer. »Auf jeden Fall bin ich hier gestrandet und weiß nicht weiter, ich weiß nicht, wo ich hinsoll.«
»Ich bin Marko«, stellte er sich daraufhin vor und setzte hinzu: »Wenn du willst, kann ich dich mitnehmen.«
Zunächst wollte sie jubeln, doch dann mahnte sie eine innere Stimme zur Vorsicht. Möglicherweise ist er ein irrer Killer, der es auf an Raststätten gestrandete Studentinnen abgesehen hat!
Doch was
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