Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
man Kapitän wurde.
Da das Gespräch zwischen ihnen verebbte, schaltete Anna das Radio ein. Was da gerade lief, hörte sich gar nicht mal schlecht an. Oder hatte sie sich nur an den gleichförmigen Singsang gewöhnt?
Anna ließ sich von der Musik umfluten und schaute nach draußen, wo abwechselnd kleine Lichter aufblitzten. Hin und wieder erblickte sie auch die roten Positionsleuchten der Windräder. Dann wieder kleine Ortschaften, die sich in die Finsternis duckten.
In all diesen Häusern wurde Weihnachten gefeiert, ging es ihr durch den Sinn. Vielleicht waren diese Familien ebenfalls nicht glücklich, wahrscheinlich würde es bei einigen über Weihnachten zum Streit kommen. Aber niemand musste in einem tiefergelegten Ford durch die Nacht irren, in der Hoffnung, seine Familie rechtzeitig zu erreichen. So was geschah nur ihr.
Ein bitteres Lachen entschlüpfte ihrer Kehle.
Seltsam, dass sie sich jetzt so danach sehnte, bei ihrer Mutter anrufen zu können, wo sie es sonst tunlichst vermieden hatte, als sie ein Telefon und auch die Nummer parat hatte.
»Alles okay?«, fragte Marko, der ihr Lachen mitbekommen hatte.
»Ja, alles okay«, antwortete Anna schnell, denn sie wollte ihm nicht erklären, was gerade durch ihren Kopf ging. »Ich habe nur an etwas Komisches gedacht.« Etwas Saukomisches, fügte sie sarkastisch in Gedanken hinzu. Etwas, bei dem man lieber heulen als lachen will.
Das Gesagte schien Marko allerdings als Antwort zu genügen.
Den Rest der Fahrt bis nach Rostock schwiegen sie. Vorbei an den Lichtern der Stadt, die Anna ein wenig an Leipzig erinnerte, manövrierte Marko seinen Wagen über die Stadtautobahn, dann in eine kleine Seitenstraße in der Altstadt. Vor einem dreistöckigen Wohnhaus, das etwas sanierungsbedürftig aussah, parkte er in zweiter Reihe und schaltete die Warnblinkanlage an.
»Bin gleich wieder da«, erklärte er und verschwand. Anna blickte aus dem Fenster. Sie war ihm dankbar, dass er nicht gefragt hatte, ob sie mit ihm nach oben kommen wollte. Die Warnblinkanlage tickte beruhigend, begleitet von einem orangefarbenen Schein, der über die Wände huschte.
Nach einer Weile entdeckte sie einen blinkenden Sternenschweif in einem der Fenster. Das Licht dahinter war verloschen, die Bewohner schliefen. Nur der Stern versuchte, ein bisschen Leben zu verbreiten.
Genau so ein Stern hatte auch in dem Fenster von Peters Familie gehangen, sagte sie sich, und ihre Gedanken schweiften augenblicklich um ein paar Jahre zurück. In der elften Klasse war sie mit einem Jungen namens Peter zusammen gewesen. Ihre Beziehung war ihnen nach einem halben Jahr bereits so ernst erschienen, dass er darauf bestanden hatte, sie an Weihnachten zu seinen Eltern mitzunehmen. Anna, die schon damals dem heimischen Weihnachtsfest nicht mehr viel abgewinnen konnte, hatte eingewilligt und ihrer Mutter dann wochenlang in den Ohren gelegen, den Heiligen Abend bei Peter verbringen zu dürfen.
Es war Gerd gewesen, der gemeint hatte, dass sie sie doch gehen lassen sollte. Nicht, weil er ihr einen Gefallen tun wollte, sondern weil er der Meinung war, dass das Fest schöner sein würde ohne sie. Das hatte Anna erst in späteren Jahren erkannt, in jenem Jahr hatte sie sich gefreut, ihrer Freundin stolz mitteilen zu können, dass sie Weihnachten mit Peter feiern würde.
Das Weihnachtsfest war eines der denkwürdigsten gewesen, die sie je erlebt hatte. Während Peters Mutter eine ganz normale Frau zu sein schien, hatte es sein Vater faustdick hinter den Ohren. Mit vorrückender Stunde und anwachsender Zahl von Schnäpsen wurde er lustiger. Zunächst sang er nur lauthals Weihnachtslieder, dann aber begann er, seine Krawatte abzubinden und sein Hemd aufzuknöpfen.
»Ach Heinz, was machst du denn?«, hatte die Mutter mit besorgtem Blick auf Anna gefragt, von der sie fürchtete, dass sie ein schlechtes Bild von ihnen bekommen würde. Doch der Vater hörte nicht auf sie. Auch schien er vergessen zu haben, dass die Freundin seines Sohnes da war und der Sohn mit feuerroten Ohren dasaß und sich am liebsten in den Boden geschämt hatte. Er zog sich das Hemd aus, rückte den Tisch in der Stubenmitte beiseite und begann dann irgendwas zu singen, das ziemlich russisch klang. Und damit nicht genug. Nachdem er sich mit Singen warm gemacht hatte, begann er, einen Tanz aufzuführen, den Anna mal in einem alten russischen Film gesehen hatte.
»Aber Heinz, du kannst doch nicht«, rief die Mutter aus, doch Heinz konnte – und wie!
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