Eine zweite Chance
verleugnet.
Diejenigen, die die Wissenschaft durch alle Zeiten vorangebracht haben, vertraten alle einen bestimmten Standpunkt: Nur dadurch, dass man Wahrheiten und Auffassungen herausfordert, die als gegeben gelten, haben wir die Möglichkeit, etwas Neues zu lernen.
In der Geschichte der Menschheit haben wir in verschiedenen Paradigmen gelebt. Ein Paradigma ist etwas, das unser eigenes Denken und das der Wissenschaft während einer gewissen Periode lenkt – eine Kombination von Glaubenssätzen, die im Prinzip unbewusst sind und nie in Frage gestellt werden und die unserer Weltauffassung zugrunde liegen. Die Wissenschaft braucht Zeit, um eine neue Auffassung zu akzeptieren. Manchmal mehrere Jahrhunderte, je nachdem, wie stark sie die seit langem herrschende Meinung herausfordert. Anfangs äußern sich die Skeptiker selbstbewusst und sagen, die Behauptung sei unmöglich, weil sie den Gesetzen der Wissenschaft widerspräche. Dann beginnen sie widerwillig einzugestehen, dass die neue Auffassung vielleicht möglich sein könnte, dass aber die angeführten Beweise offensichtlich mangelhaft seien und dass sie im Großen und Ganzen überhaupt nicht besonders interessant sei. Nachdem weitere Zeit vergangen ist, erkennt die Mehrheit, dass die Entdeckung nicht nur wichtig ist, sondern umwälzender als wir es zuvor verstanden haben. Erst dann öffnet sich die Tür zu einem neuen Paradigma, und mit der Zeit vergisst die Menschheit, dass die neue Auffassung einmal als lächerliche Irrlehre gegolten hat.
The Global Consciousness Project (Das globale Bewusstseinsprojekt) ist eine internationale und interdisziplinäre Forschungszusammenarbeit. Kontinuierlich werden Daten von einem Netzwerk von Zufallsgeneratoren gesammelt, die sich an fünfundsechzig Orten rund um den Erdball befinden. Das Ziel ist, Abweichungen vom Zufälligen zu untersuchen, welche die Anwesenheit und Aktivität des Bewusstseins in der physischen Welt beweisen können. Normalerweise produziert ein Zufallsgenerator ebenso viele Einser wie Nullen. Die Forscher haben bei Ereignissen, bei denen die Aufmerksamkeit von Millionen von Menschen gleichzeitig auf dasselbe Ziel gerichtet war, bei der Messung kleine, aber bedeutungsvolle Abweichungen registriert. Einige Beispiele sind die Terroranschläge auf das World Trade Center, der Moment, in dem das Urteil über O. J. Simpson im Fernsehen verlesen wurde, die Beerdigung von Prinzessin Diana und die Bekanntgabe, dass Barack Obama die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte. Das deutet darauf hin, dass Effekte in der physischen Welt entstehen, wenn eine große Menge des Bewusstseins der Menschen dieselben Absichten und Gefühle teilt. Es gibt heute solide Testresultate, die dies beweisen, aber die Forscher wissen noch nicht, ob das bedeutet, dass ein kollektives Bewusstsein existiert. The Global Consciousness Project ist seitens der wissenschaftlichen Welt mit einiger Skepsis aufgenommen worden, und die Frage ist, ob die Menschheit für den Paradigmenwechsel bereit ist, der notwendig wäre, wenn die Testergebnisse unwiderlegbar werden. Sind wir bereit, die Verantwortung zu übernehmen, die uns plötzlich auferlegt wird, wenn bewiesen wird, dass unsere Gedanken nicht nur uns selbst beeinflussen, sondern auch eine Auswirkung auf unsere Umwelt haben?
Helena blieb stehen. Eine Weile ließ sie den Blick über den See wandern, in Gedanken noch bei dem, was sie gerade gelesen hatte. Was hatte sie erwartet? Eigentlich nichts, verstand sie jetzt, als sie von dem Inhalt des Textes überrascht worden war. Sie wusste nichts über Verner. Wie eine Selbstverständlichkeit war er da, gehörte aber trotzdem nicht dazu. Er war ein Teil der Gemeinschaft, der, über den geredet und gelacht wurde, der aber nie persönlich dabei war. In den drei Jahren, die vergangen waren, seit sie hierhergezogen war, waren sie selten aufeinander getroffen, sie hatte nie versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und sie hatte nie darüber nachgedacht, was in ihm vor sich ging. Sie hatte sein Häuschen flüchtig gesehen, sorgsam darauf geachtet, dass sie im Vorbeigehen Abstand hielt, und jetzt fragte sie sich, was ihre Schritte gelenkt hatte. Dass er mehr oder weniger verrückt war, hatte sie vorausgesetzt. Jetzt wurde ihr bewusst, dass diese Annahme eigentlich von Anna-Karin stammte und dass sie diese unbemerkt übernommen hatte.
Genau wie die Vorurteile über ihre eigene Mutter, die Säuferin aus Apartment Nummer vier, unbemerkt zwischen den Türen des
Weitere Kostenlose Bücher