Eine zweite Chance
abhängig. Es war die Zeit, in der die Kasse sich füllen musste, um das Überleben für den Rest des Jahres zu sichern.
Aber eigentlich waren das lauter Ausreden.
Was ihr fehlte, war nur Mut.
Durch das Fenster sah sie zum Hof der Anderssons, wo die Kastanie vergeblich ihre Äste zwischen den Höfen ausstreckte. Der Erbhof, zu dem Verners verfallene Hütte gehörte. Das Original da oben im Wald, von dem Helena nichts wusste, den sie aber im Stillen immer bewundert hatte. Mit seiner Weigerung sich anzupassen hatte er seine Chance verpasst, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Er hatte weitergelebt, wie es ihm gefiel. Sie selbst hatte alles dafür getan, akzeptiert zu werden, ängstlich nach ungeschriebenen Regeln gesucht und sich bemüht, die zu befolgen, die sie gefunden hatte. Verner hatte sich verweigert, und sie beneidete ihn um seinen Mut.
Sie ahnte eine Lüge, oder zumindest Übertreibung, als Anna-Karin behauptet hatte, ganz viele wollten ihn aus der Gegend weg haben. Wie üblich wollte sie ihre Verantwortung auf eine undefinierbare Gruppe übertragen. Nach Helenas Ansicht nahm der Ort eine nachsichtige Haltung sowohl zu Verner als auch zu seinen Alarmsignalen ein. Sie wurden als eine lokale Eigenart gesehen, von der man in ungezwungenen Worten sprach. Ansonsten machte er sich auch kaum bemerkbar, sondern blieb meist für sich.
Aber es war riskant, zu sehr aus der Menge hervorzustechen. Es provozierte solche Verhaltensweisen, die eine Gruppe aus den Zeiten geerbt hatte, als es darum ging, ihr Überleben durch Wachsamkeit gegenüber dem Unbekannten zu sichern.
Und besonders stark wurde offenbar Anna-Karin provoziert.
Eine Weile blieb Helena mit dem Kopf in den Händen sitzen. Dann stand sie auf und zog sich die Gummistiefel und eine Jacke an, um einen lang ersehnten Spaziergang zu machen.
Mit der geschlossenen Tür und dem Rücken zum Hotel fühlte es sich fast wie eine Flucht an.
Die Luft war von feuchter Erde gesättigt, und die Sonne schickte die letzten Strahlen des Tages über den Bergkamm. Im Osten kroch die Dunkelheit immer weiter den Abhang hinauf, eine verwaschene Decke wurde über den Wald gebreitet, der von düsteren Schattierungen bedeckt wurde.
Sie wählte den Weg hinunter zum See, um der Möglichkeit zu entgehen, von Anna-Karins Fenster aus gesehen zu werden.
Am See bog sie links ein und ging die Wiese entlang, während die Gummistiefel in der lehmigen Erde versanken. Der Schnee hatte sich auf einige zerstreute Flächen zurückgezogen, die dem Frühling noch standhielten. In der Ferne hörte sie Hundegebell. Sie ging zur Kirche hinüber, ohne eine bestimmte Absicht oder ein Ziel. Erst beim Anblick der Kirchenmauer erinnerte sie sich an Verners Alarmsignal und die Mitteilung, die mit Sicherheit an der Anschlagstafel neben dem Parkplatz der Kirche zu finden war. Früher war es nie dazu gekommen, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, doch jetzt wollte sie herausfinden, was dort stand. Auf einmal bekam der Spaziergang sowohl eine Richtung als auch ein Ziel, was sich besser anfühlte, als wenn sie nur sinnlos Zeit vergeudete.
Es war einfach zu erkennen, welche Mitteilung an der Tafel von ihm stammte. Zwischen einem Informationsblatt über ein Treffen im Gemeindehaus und den Vorschriften für den Friedhof hingen dort zwei DIN-A4-Seiten mit maschinengeschriebenem Text. Helena, die ihre Lesebrille zu Hause gelassen hatte, trat einen Schritt zurück, um lesen zu können, was dort stand.
Zeit für ein neues Paradigma?
Anfang des 16. Jahrhunderts galt die allgemeine Auffassung, dass Gott die Erde als Zentrum von allem und als Herrn dieser Welt den Menschen nach seinem eigenen Bilde erschaffen hatte.
Diese Behauptung war damals genauso selbstverständlich, wie es heute ist, dass die Erde um die Sonne kreist. Doch der Weg zwischen diesen Weltauffassungen war länger, als wir es uns heute vorstellen können. Alles begann damit, dass Kopernikus, nachdem er jahrelang das Himmelsgewölbe studiert hatte, erkannte, dass es rein mathematisch besser passte, wenn man statt der Erde die Sonne ins Zentrum stellte. Doch die herrschende Weltauffassung herauszufordern war nichts, was man ungestraft tat. Kopernikus zögerte, seine Entdeckung zu veröffentlichen, und publizierte seine Theorien erst in dem Jahr, in dem er starb. Sicherheitshalber widmete er sein Buch dem Papst, der sich jedoch nicht beeindrucken ließ. Zweihundert Jahre lang wurde Kopernikus’ Entdeckung verurteilt und
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