Eine zweite Chance
behaupten Sie ja, dass wir mehr Macht hätten als Gott.«
»Ich behaupte gar nichts. Ich erzähle von der Quantenphysik, und diese besagt, dass wir die Wirklichkeit nicht betrachten können, ohne sie zugleich zu verändern. Forscher meinen, es gäbe kein da draußen , das unabhängig von hier drinnen ist.« Er klopft sich mit dem Finger an den Kopf. »Unser Gehirn wird in jeder Sekunde mit einer ungeheuren Menge von Sinneseindrücken bombardiert. Uns wird nur ungefähr ein Prozent von all diesen Informationen bewusst, der Rest wird aussortiert. Daher lautet die Frage vielleicht eher, wie wir uns entscheiden, Dinge zu fokussieren.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn man von reinen Überlebensinstinkten absieht, bevorzugt das Gehirn das, was du ihm beigebracht hast zu bevorzugen. Der Gedanke reicht nie über den Referenzrahmen hinaus, den du selbst aufgebaut hast, da gibt es ganz einfach keine Kopplungen. Das Gehirn vergleicht alles damit, was es schon weiß, und sucht immer nach Logik. Und es ist ein Meister darin zu verallgemeinern. Nehmen wir dies als Beispiel.« Er dreht sich um und schreibt eifrig an die Tafel.
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»Wie viele können lesen, was da steht?« Alle außer Jonny heben die Hand. Ob er es wirklich nicht lesen kann oder nur einen letzten Versuch macht, sein Desinteresse zu zeigen, ist schwer zu sagen.
»Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass das, was du wahrnimmst, gerade durch deine eigenen Lebenserfahrungen, Überzeugungen und Bewertungen gefiltert worden ist. Wenn du dich umschaust, ist es nicht die Wirklichkeit, die du siehst, sondern die Wirklichkeit, welche gerade deine Sinne zu bemerken wählen. Das, was in deine Gedankenmuster passt, was dein Glaube zulässt und was deine Gefühle wahrnehmen möchten. Du kannst sicher sein, der Mitschüler neben dir hat ganz andere Filter und nimmt daher eine ganz andere Deutung vor. Wer von euch kann also behaupten, dass gerade seine Auffassung wahr ist?« Für eine Weile wird es still. »Hier ist die Erklärung für jeden kulturellen oder religiösen Konflikt in der Welt. Wir stecken fest in unserer eigenen Konstruktion der Wirklichkeit und versuchen andere davon zu überzeugen, dass die ihre falsch ist, während in Wirklichkeit unsere eigene Version begrenzt ist.« Er legt die Kreide ab und setzt sich auf das Pult. »Alles, was wir unser Ich nennen, ist ein Resultat dessen, was wir gedacht haben. Und was wir denken, das werden wir.«
Erika spricht ausnahmsweise, ohne die Hand zu heben. »Es ist Gotteslästerung, so etwas zu sagen.«
»Nicht nach meiner Auffassung, aber wie gesagt haben wir alle verschiedene Ansichten.«
Erika steht vom Stuhl auf. »Ich finde es respektlos gegenüber uns Gläubigen, dass wir uns so etwas im Unterricht anhören müssen.«
Einige stöhnen, der eine oder andere verdreht die Augen. »Erika, hör auf.«
Sein Vater breitet die Hände aus. »Es war nicht meine Absicht, respektlos zu wirken. Das Leben läuft vielleicht nicht darauf hinaus zu wissen, vielleicht geht es darum zu staunen? Vielleicht liegt ein totales Verständnis der Wirklichkeit jenseits des Vermögens, rationell zu denken. Wenn du an einen unsichtbaren Gott glaubst, sollten du und ich in diesem Punkt einig sein.«
Erika geht zur Tür, und Anders sieht, dass sie rot im Gesicht ist. Gerade als die Tür hinter ihr zufällt, klingelt die Schulglocke. Die Stunde ist vorbei. Nur Jonny steht auf, bleibt aber am Stuhl stehen, als er sieht, dass alle anderen sich nicht rühren. Auch Anders nicht, der spürt, wie ihn ein Gefühl streift, das er bisher nicht kannte. Ein Gefühl, das er als Kind so gern gehabt hätte, als alle seinen Vater Schlittschuh laufen sahen. Wie sehr hatte er es sich damals gewünscht, sich seinem Vater nicht mehr überlegen zu fühlen. Seinem Vater, der nichts konnte, nicht einmal kochen. Der unfähig war. Die Verachtung, die er empfunden hat, wird plötzlich von einer willkommenen Bewunderung aufgewogen. Er steht da vorn, die Jacke genauso hässlich wie zuvor, aber plötzlich macht das nichts.
»Jepp, das war ein bisschen was über die Quantenphysik. Lasst mich die Stunde mit ein paar Worten von Albert Einstein abschließen. Hört genau zu, denn wenn ihr euch an das hier erinnert und es als einen Rat nehmt, wird euer Leben einfacher zu meistern sein.« Er dreht sich um und schreibt einen Satz an die Tafel: »Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu
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