Einem Tag in Paris
nächsten Augenblick aus seinem Zelt zum Vorschein kommen wird.
Aber Dana tritt auf ihn zu und küsst ihn auf die Lippen. Dann streckt sie eine Hand zu Chantal aus.
»Enchantée«, sagt sie mit dieser butterweichen Filmstimme, die alle lieben. Nachts hört Jeremy eine andere Stimme: ihre Bettstimme, so nennt er sie. Er stellt sie sich gern als eine Stimme vor, die sie sich für ihn aufhebt, anders als die Stimme, die sie mit der Welt teilt.
»Ich freue mich so, Sie kennenzulernen«, sagt Chantal. »Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.«
Lügen, denkt Jeremy. Er hat eine hinreißende Ehefrau erfunden, eine glamouröse Ehefrau, eine überlebensgroße Ehefrau. Und heute hat er sogar sich selbst erfunden. Ein Junge, der mit einem nackten Mädchen in einen sommerlichen See springt. Ein Mann, der eine Frau auf einem Hausboot auf der Seine verführt.
Was, wenn alles, dessen du dir immer sicher warst – die Schönheit deiner Ehefrau, deine eigene Treue –, auf einmal erschüttert wird?
»Du siehst fürchterlich aus!«, sagt Lindy.
Dana streicht Lindy über den Kopf, zieht ihre Tochter dann an sich und umarmt sie. Es ist eine kräftige Umarmung: Das Mädchen versinkt in den Armen seiner Mutter.
»Was ist das denn?« Dana weicht ein Stück zurück und mustert Lindys kahlen Kopf.
»Es wird wieder nachwachsen«, sagt Lindy.
»Du siehst hinreißend aus«, sagt Dana zu ihr.
»Wirklich?«, sagt Lindy, aufrichtig verblüfft.
»Wirklich.«
Lindy schlingt die Arme um ihre Mutter. Über Lindys Schulter verdreht Dana die Augen, mit einem breiten, glücklichen Lächeln.
»Ist das dein Kostüm?«, fragt Lindy. »Was bist du?«
Dana lacht. »Ich bin ein Wrack, so wie es aussieht. Ich habe eben meinen Ehemann an eine jüngere Frau verloren.« Sie wirft einen Blick auf Chantal. »Und ich bin vom Gewitter überrascht worden. Wir hoffen, dass es wieder zu regnen anfängt. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, noch schlimmer auszusehen als so.«
Ihre Rolle, denkt Jeremy, und er spürt, wie sich seine Schultern entspannen, seine Brust sich dehnt. Natürlich. Es ist Make-up – jetzt kann er sehen, dass in die makellose Haut seiner Frau neue Falten gemalt wurden.
An die Geschichte dieses Films kann er sich nicht erinnern, obwohl er sich sicher ist, dass sie sie ihm erzählt hat. Habe ich nicht aufgepasst?, denkt er. Aber genau das ist er – ein Mann, der zuhört. Wann hat sie mir die Geschichte erzählt? Gestern Abend beim Dinner? Vor Monaten, als sie das Drehbuch bekam? Warum habe ich es vergessen?
»Warum steht da ein Bett auf der Brücke?«, fragt er auf Französisch.
»Siehst du«, sagt Dana. »Ich wusste, dass du wunderbar Französisch sprichst. Aber nie mit mir.« Sie wendet sich an Chantal. »Ich rede zu viel. Sehen Sie, was passiert, wenn ich aufhöre zu reden?«
»Ich habe den ganzen Tag Fehler gemacht«, sagt Jeremy. Das ist noch ein Fehler. Auf einmal hat alles zwei Bedeutungen. Jeremy fühlt sich aus dem Gleichgewicht geworfen.
»Le lit?«, wiederholt er.
»Ah, das Bett«, sagt Dana.
»Achtung! Atten-ti-ion!«, ruft Pascale über den Lautsprecher. Der Film ist eine französisch-amerikanische Koproduktion. Die Besetzung ist halb französisch, halb amerikanisch. Selbst die Dialoge sind ein Mischmasch aus beiden Sprachen. So viel weiß Jeremy noch.
»Ich muss los«, sagt Dana, während Pascale irgendetwas über den Lautsprecher brüllt. »Ich bin gleich dran. Ich hoffe, wir können uns später sprechen.« Diesen letzten Satz sagt sie zu Chantal, die über die Maßen erfreut scheint, die Aufmerksamkeit dieser Schauspielerin zu bekommen, selbst wenn sie hausbacken und ärmlich angezogen und die Ehefrau eines Mannes ist, der den Tag damit verbracht hat, nach ihr zu schmachten.
Ich bedeute ihr nichts, denkt Jeremy, und dann reißt er sich zusammen. Natürlich nicht. Ich bin der Schüler dieser Woche. Am Montag wird sie einen anderen Schüler treffen.
Dana eilt davon.
»Komm schon«, sagt Lindy atemlos. »Ich will ganz vorn sein.«
Sie klingt wie ein kleines Mädchen bei seinen ersten Dreharbeiten. Sie sollte es besser wissen – dass es länger dauern wird, als sie erwarten, die Szene aufzubauen, dass gleich am Anfang irgendetwas schiefgehen wird und dass sie eine neue Linse finden oder den Kranausleger herbeischaffen oder die Beleuchtung neu einstellen werden müssen. Und wenn es tatsächlich regnen sollte, werden sie Planen über den Kameraleuten und der Regisseurin brauchen, selbst wenn die
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