Einem Tag mit dir
ihnen also dankbar sein.«
Vorsichtig stieg ich vom Bett. »Wer mag wohl hier wohnen?«
Westry schaute aufs Meer hinaus. »Tja, wenn ich raten soll«, sagte er und schaute sich noch einmal in der Hütte um, »dann würde ich sagen, ein gestrandeter Matrose.«
Ich nickte. Das klang plausibel. »Aber was ist mit seinem Schiff passiert?«
»Vielleicht gesunken.«
»Und wie hat er dann das Blatt Papier« – ich öffnete die Schublade und nahm das in dunkles Leder gebundene Buch heraus – »und das Buch hierher gerettet?«
Westry legte den Zeigefinger ans Kinn, als dächte er über das Schicksal des gestrandeten Matrosen nach. »Vielleicht hatte er für alle Fälle einen Rucksack mit dem Nötigsten gepackt.« Er zeigte auf die Laterne auf dem Schreibtisch. »Eine Laterne, ein Buch, eine Büchse mit Keksen. Als das Schiff gesunken ist, hat er sich vielleicht an eine Holzplanke geklammert und sich treiben lassen, bis er auf dieser Insel gelandet ist.«
»Dabei wäre das Buch aber nass geworden«, wandte ich ein.
»Kann sein«, sagte Westry. »Er hat es eben in der Son ne trocknen lassen.« Wir blätterten in dem Buch und stell ten fest, dass die Seiten tatsächlich voller Wasserflecken waren. »Sehen Sie?«
Ich nickte. »Aber wo wollte er hin? Offenbar war er ja Franzose.«
»Und arm«, fügte Westry hinzu und zeigte auf die wenigen Münzen in der Schublade.
»Er könnte ja auch ein Pirat gewesen sein, oder?«
Westry schüttelte den Kopf. »Ein Pirat hätte sicherlich keine Verwendung für ein Buch gehabt.«
Ich betrachtete die Vorhänge an den Fenstern, die von Wind und Wetter ziemlich zerschlissen, aber immer noch dunkelrot waren, als hätte jemand den Stoff in Rotwein getränkt.
»Also gut, dann haben wir es also mit einem armen, gestrandeten französischen Matrosen zu tun, der gern liest«, sagte ich.
»Der gern liest und gern Rotwein trinkt«, fügte Westry hinzu und hielt eine verstaubte grüne Flasche hoch, die mit einem Korken verschlossen war.
»Und der ein Kunstfreund ist«, sagte ich und schob ein Stück Sackleinen beiseite, das ein kleines Gemälde über dem Bett verdeckte. Auf der Leinwand war eine atemberaubende Szene abgebildet: eine Hütte wie die, in der wir uns gerade aufhielten, an einem Strand mit leuchtend blauem Wasser, daneben ein Hibiskusstrauch mit knallgelben Blüten. Im Hintergrund standen zwei Personen.
»Mein Gott, wie schön«, murmelte Westry.
Ich nickte. »Verstehen Sie was von Kunst?«
»Ein bisschen«, sagte er. »Lassen Sie mal sehen.« Er beugte sich vor, um das Bild näher zu betrachten. Dann kratzte er sich am Kopf. »Es kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte er.
Meine Mutter hatte sich immer bemüht, mir die franzö sischen Impressionisten nahezubringen, aber leider war nicht allzu viel hängen geblieben. Trotzdem bekam ich Herzklopfen bei dem Gedanken, was wir da entdeckt haben könnten.
»Glauben Sie, der Künstler hat hier gewohnt?«
»Vielleicht«, sagte Westry, den Blick immer noch auf das Bild geheftet. »Aus welchem Jahr stammt das Buch da in der Schublade?«
Ich schlug das Buch auf und suchte nach dem Erscheinungsdatum. »Hier steht es. Erstausgabe 1877.«
»Es könnte einer der großen Impressionisten gewesen sein«, sagte Westry.
»Das ist nicht Ihr Ernst«, erwiderte ich entgeistert.
»Es ist genauso gut möglich wie alles andere«, sagte er. »Ich bin mir fast sicher, dass ich dieses Bild schon mal in einem Buch gesehen habe, oder zumindest ein sehr ähnliches. Und diese Inseln hier im Pazifik waren unter den französischen Malern sehr beliebt. Gut möglich, dass es einer von den Großen war.« Seine Augen funkelten. »Sie wissen doch, was das bedeutet, oder?«
»Was denn?«
»Dass wir diesen Ort hier schützen müssen.«
Ich nickte. »Aber wie?«
»Wir machen es zu unserem Projekt, solange wir hier sind«, schlug er vor. »Wir werden die Hütte restaurieren.«
»Sie könnte auf jeden Fall einen gründlichen Hausputz gebrauchen.«
»Und eine neue Tür«, sagte Westry.
»Und neue Vorhänge«, sagte ich. »Ich werde welche nähen.«
»Sie sind also dabei?« Er sah mich verschmitzt an.
Warum nicht, dachte ich. So konnte ich mir die Zeit vertreiben, die Kitty mit Lance verbrachte. »Abgemacht«, sagte ich. »Aber wie werden wir die nötige Zeit finden, und wie werden wir hierherkommen?«
»Hierher kommen wir zu Fuß«, sagte er. »Bis zur Basis ist es von hier aus keinen Kilometer. Sie können sich davonstehlen und wieder zurückgehen,
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