Einem Tag mit dir
ohne dass jemand merkt, dass Sie fort waren. Es gibt einen Weg, der zur Straße führt. Das Werkzeug und das Holz schaffe ich natürlich in einem Jeep hierher. Wir müssen das alles ein bisschen planen, aber das kriegen wir schon hin.«
Als Westry sich zur Tür umdrehte, quietschte eine Diele unter seinen Füßen und schob sich an einem Ende hoch. Er bückte sich und hob sie an. Unter dem Fußboden kam ein kleiner Verschlag zum Vorschein. »Sehr gut«, sagte er. »Das ist unser Briefkasten. Ich werde Ihnen Nachrichten hinterlassen, wenn ich allein herkomme, und Sie können es genauso halten.«
Ich bekam Herzklopfen – das alles war so aufregend: die Hütte, der Künstler, Nachrichten unter dem Fuß boden und dieser Mann …
Westry wickelte das Gemälde in das Stück Sackleinen und schob es zur Sicherheit unters Bett.
»Nur noch eins«, sagte er.
»Ja?«
»Wir dürfen niemandem von diesem Ort erzählen. Absolut niemandem.«
Es würde mir schwerfallen, etwas so Aufregendes vor Kitty geheim zu halten, aber gleichzeitig konnte ich mir nicht vorstellen, sie mit hierher zu nehmen, an einen Ort, der mir jetzt schon am Herzen lag, der mir jetzt schon beinahe heilig erschien. Ich berührte die Brosche, die Kitty mir geschenkt hatte, und sofort meldete sich mein schlech tes Gewissen. War es unrecht, diese kleine Hütte für mich allein haben zu wollen, nachdem wir uns geschworen hatten, keine Geheimnisse voreinander zu haben?
»Nun?«, fragte Westry.
Ich ließ meine Hand sinken und nickte. »Versprochen«, sagte ich und redete mir ein, dass Kitty nichts zu erfahren brauchte – jedenfalls vorerst nicht. »Ich werde keiner Menschenseele davon erzählen.«
»Schön. Soll ich Sie zu Ihren Freunden begleiten?«
»Ja, bitte«, sagte ich. »Die denken bestimmt, ich sei ertrunken.«
»Oder von einem Hai verspeist worden«, sagte Westry grinsend.
Die Schönheit der Insel bestand nicht nur aus dem türkisfarbenen Wasser und den leuchtend grünen Hügeln. Das waren nur die Äußerlichkeiten. Die wahre Schönheit der Insel lag in ihren Geschichten. Jede Bucht schien ihre eigene zu haben.
5
W estry scheint sehr nett zu sein«, sagte Kitty am selben Abend, kaum dass wir in unserem Zimmer waren.
»Er ist in Ordnung«, erwiderte ich ausweichend, während ich meinen Hut abnahm und auf das oberste Regal im Wandschrank legte.
»Wo ist er her?«
Ich zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Wir haben uns nur kurz unterhalten. Er war so freundlich, mich zurückzubegleiten.«
Ich spürte Kittys Grinsen in meinem Rücken. »Mit Lance verstehst du dich ja anscheinend richtig gut«, sagte ich, um das Thema zu wechseln.
»Ja«, antwortete Kitty und lehnte sich ans Kopfteil ihres Betts. »Ich mag ihn. Sehr sogar. Aber« – sie dachte einen Moment nach und schüttelte den Kopf – »irgendwie gefällt es mir nicht, wie er von Colonel Donahue redet. Findest du nicht auch, dass er ihm mehr Respekt entgegenbringen müsste?«
Ich hob die Schultern. Ich war noch zu keinem Schluss gekommen, was mir das kleinere Übel für Kitty erschien: der anmaßende Soldat oder sein überheblicher Vorgesetzter.
»Na ja«, fuhr Kitty fort. »Ist auch nicht so wichtig. Lance hat dafür andere wunderbare Qualitäten.«
Zum Beispiel seine Angeberei. Oder seine Flirterei mit einheimischen Frauen. Oder seine selbstgefällige Art. »Ja«, erwiderte ich, »eine ganze Menge.«
»Anne«, setzte Kitty ein wenig verlegen an. »Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, es dir zu erzählen, aber an dem Tanzabend hat Colonel Donahue …«
In diesem Moment wurde laut an die Tür geklopft. Verdutzt hielt Kitty inne.
Ich machte auf. »Ja?«
Liz stand vor der Tür. »Mary liegt auf der Kranken station. Kommt schnell«, sagte sie atemlos.
Wir folgten Liz die Treppe hinunter nach draußen und liefen den Fußweg entlang. Die Krankenstation war nicht weit entfernt, aber als wir ankamen, waren wir außer Atem.
Schwester Hildebrand beugte sich gerade über Marys Bett, gemeinsam mit Dr. Livingston, einem Arzt in mittleren Jahren mit schütterem Haar und Brille. Mary war unnatürlich blass. Sie hatte die Augen geschlossen, schien bewusstlos.
»O Gott«, flüsterte ich. »Was ist passiert?«
Der Doktor verabreichte Mary eine Spritze in den Arm. Sie zuckte nicht einmal, als die Nadel in die Haut stach.
»Eine der Frauen hat sie in ihrem Zimmer ohnmächtig neben dem Bett gefunden«, sagte Schwester Hildebrand. »Sie muss schon ziemlich lange dort gelegen haben. Mala ria. Hat
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