Einem Tag mit dir
ist wunderschön. Weißt Du, dass ich trotz meiner einundzwanzig Jahre noch nie ein Medaillon besessen habe? Schon immer habe ich mir eins gewünscht. Ich werde es voller Stolz tragen und bestimmt nie wieder ablegen. Mir schwebt schon alles Mögliche vor, was ich hineintun könnte. Du musst mir bei der Entscheidung helfen.
Du fehlst mir so sehr, aber es tröstet mich, hier in der Hütte zu sein. Denn selbst wenn wir getrennt sind, kann ich Dich hier finden. Du bist in diesen vier Wänden anwesend, und das Wissen wärmt mich.
Frohe Weihnachten!
In Liebe
Deine Cleo
Die Post traf kurz vor dem Gottesdienst ein. Misstrauisch beäugte ich die Postkiste. Vor allem nach dem letzten Brief von meiner Mutter, der mich so überrascht und beunruhigt hatte, war ich auf der Hut. Meinen Vater ohne weitere Erklärungen zu verlassen! Sicherlich steckte mehr hinter der Geschichte.
»Nur einer für dich heute«, sagte Mary und gab mir einen leichten, rosafarbenen Umschlag.
Rosafarben . Ich atmete auf. Der kam garantiert nicht von Gerard. Ich war erleichtert und hatte zugleich ein schlechtes Gewissen. Es war ja nicht so, dass ich gar nichts von ihm hören wollte. Nein, es war viel komplizierter. Ich betrachtete die elegante, saubere Handschrift und den Absender auf der Rückseite. Maxine . Ich steckte den Brief in meine Rocktasche und wollte mich schleunigst verdrücken. Aber als ich die Glocken der Kapelle in der Ferne läuten hörte, drehte ich mich noch einmal um. Schwester Hildebrand war mit Papierkram beschäftigt. Was würde sie an Heiligabend auf dieser merkwürdigen Insel tun, so ganz allein? Sie sprach nie über ihre Familie, und wenn es stimmte, was die anderen Frauen erzählten, war ihre Vergangenheit alles andere als glücklich gewesen. Besonders an Weihnachten musste sie sich schrecklich einsam fühlen. Sie lächelte nur selten, und wenn sie den Mund aufmachte, dann nur, um Befehle zu bellen. Aber heute war Weihnachten. An so einem Tag sollte niemand allein sein. Ob jemand sie zum Gottesdienst eingeladen hatte?
Leise trat ich näher. »Entschuldigen Sie, Schwester Hildebrand«, begann ich zögernd, »ich würde jetzt gern gehen. Heute ist Heiligabend …«
»Ich weiß selbst, welches Datum wir heute haben«, fauchte sie.
Ich nickte schüchtern. »Es ist nur so, dass ich – na ja …«
»Sagen Sie einfach, was Sie wollen, Schwester Calloway«, fiel sie mir ins Wort. »Sie sehen doch, dass ich zu tun habe.«
»Ja«, erwiderte ich. »Tut mir leid. Ich wollte nur fragen, ob Sie wissen, dass heute Abend ein Kerzengottes dienst stattfindet. Vielleicht würden Sie ja gern daran teil nehmen.«
Sie blickte einen Moment von ihren Papieren auf und sah mich an – amüsiert und vielleicht auch ein bisschen verwirrt.
»Gehen Sie schon, Schwester Calloway«, sagte sie brüsk. »Ihre Schicht ist zu Ende.«
Ich nickte und ging zur Tür, bemüht, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Wieso machte ich mir überhaupt Gedanken über Schwester Hildebrand?
Kitty hatte mir versprochen, mich zum Gottesdienst zu begleiten, aber als ich ins Zimmer kam, war sie nicht da, und sie hatte auch keinen Zettel mit einer Nachricht hinterlassen. Nachdem ich eine Viertelstunde gewartet hatte, öffnete ich den Kleiderschrank, um mir etwas für den Abend auszusuchen. Ich sah sofort, dass ihr gelbes Kleid fehlte – ausgerechnet das Kleid, das so aufreizend eng saß. Wohin wollte sie heute Abend in dem Kleid? Ich wählte ein einfaches blaues Kleid aus, dann nahm ich mir Maxines Brief vor.
Meine liebe Antoinette!
Wie geht es Dir? Gott, wie sehr Du mir fehlst. Das Haus ist nicht mehr dasselbe, seit Du weg bist. Es ist einsamer hier.
So vieles hat sich geändert, seit Du gefahren bist, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wir beide sind immer ehrlich zueinander gewesen, daher werde ich mit der Wahrheit anfangen. Aber mach Dich darauf gefasst, dass die Wahrheit schwer verdaulich sein wird.
Du musst wissen, mein Kind, dass ich Deinen Vater schon seit Langem liebe. Ich habe dagegen angekämpft mit meiner ganzen Seele. Aber gegen die Liebe ist man einfach machtlos. Das habe ich inzwischen begriffen.
Ich hatte nie die Absicht, mit meiner Liebe Eure Familie zu zerstören. Und über viele Jahre ist es mir auch gelungen, meine Gefühle zu verbergen, und zwar so gut, dass ich sogar mich selbst täuschen konnte. Aber als mir bewusst wurde, dass Dein Vater meine Liebe erwidert, gab es kein Halten mehr, und ich habe mich schließlich zu
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