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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
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sein, dass er tatsächlich gefährlich war?
    »Na ja«, sagte ich, »er mag vielleicht ein Schürzenjäger sein, aber das ist schließlich Kittys Angelegenheit. Ich habe schon oft versucht, ihr in Bezug auf Männer den Kopf zurechtzurücken, aber glaub mir, es ist zwecklos.«
    »Du bist eine gute Freundin, Anne«, sagte Stella voller Bewunderung.
    Ich dachte an meine Geheimnisse. »Nicht so gut, wie ich es sein müsste.«
    »Wollen wir zusammen zur Kapelle gehen?«, fragte sie und warf einen Blick auf die Wanduhr, auf der es Viertel nach sieben war. »Mary und Liz sind schon da und richten alles her. Wir könnten ihnen helfen.«
    Ich lächelte. »Na klar.«
    Als wir das Gebäude verließen, war das Funksignal des Radios wieder stärker, und es erklang die Melodie von »O Holy Night« in einer Sprache, die ich nicht einordnen konnte. Es hörte sich fremd und verloren an, genau so, wie ich mich fühlte.
    Als wir in der kleinen Kapelle eintrafen, die gleich neben der Kantine lag, verschlug es mir die Sprache. »Wo haben die denn den Weihnachtsbaum aufgetrieben?« Ich begutachtete den Baum, der neben dem Klavier stand. »Eine Tanne, hier in den Tropen?«
    Mary lächelte. »Das war unser großes Geheimnis«, sagte sie. »Das Festtagsgremium plant das schon seit Monaten. Einer der Piloten hat das Prachtstück letzte Woche hergebracht, als er eine Ladung Lebensmittel abliefern musste. Da sich leider niemand über den Christbaum schmuck Gedanken gemacht hatte, mussten wir improvisieren. Zu Weihnachten haben unsere Jungs schließlich einen richtigen Baum verdient.«
    Zu unserer Linken begann der Chor, sich einzusingen, während ich den Baum genauer betrachtete. Er war mit Lametta geschmückt – handgemacht aus sehr fein geschnittenem Stanniolpapier –, und an den Zweigen hingen rote Äpfel. Einige Frauen mussten ihre Haarbän der zur Verfügung gestellt haben, denn es waren mindestens zwei Dutzend weiße Seidenschleifen über den Baum verteilt.
    »Wie schön«, murmelte ich gerührt und wischte verschämt eine Träne fort.
    Mary legte mir den Arm um die Schultern. »Alles in Ordnung, Anne?«
    Der Chor, ein bunt zusammengewürfeltes Häuflein Soldaten, die sich freiwillig zum Singen gemeldet hatten, dirigiert von einem Leutnant, der in der Heimat Musiklehrer war, stimmte »O Come, All Ye Faithful« an. Ich bekam eine Gänsehaut. Als ich die Augen schloss, sah ich Gerard vor mir, der mich mit seinem vertrauensvollen Blick anlächelte; Maxine und meinen Vater, die von mir Vergebung erhofften; Kitty winkte aus der Ferne, während Westry mitten zwischen ihnen allen am Strand stand, die Szene betrachtete und wartete.
    Ich spürte, wie die Beine unter mir nachgaben und ich zu schwanken begann, während Mary mich zu einer Kirchenbank zog. »Komm, setz dich«, sagte sie fürsorglich und fächelte mir mit einem Gesangbuch Luft zu. »Du siehst gar nicht gut aus.« Sie drehte sich um. »Sie braucht Wasser!«, rief sie Stella zu.
    Mir verschwamm alles vor den Augen, und es kam mir vor, als würde der Chor immer wieder dieselbe Zeile singen. O come let us adore him, o come let us adore him, o come let us adore him .
    Irgendjemand reichte mir einen Becher mit Wasser. »Tut mir leid«, sagte ich schuldbewusst, nachdem ich dank bar einen Schluck getrunken hatte. »Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist.«
    »Du arbeitest zu viel«, sagte Mary. »Das ist mit dir los. Ich werde mit Schwester Hildebrand darüber reden. Sieh dich doch mal an. Bleich, abgemagert. Hast du überhaupt was zu Abend gegessen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Mary kramte in ihrer Handtasche und beförderte einen Schokoriegel zutage. »Hier«, sagte sie, »nimm.«
    »Danke.«
    Die Männer strömten herein, nahmen ihre Mützen an der Tür ab, dann gesellte sich Stella zu uns, gefolgt von Liz. Als der Gottesdienst zur Hälfte vorbei war, drehte ich mich um, weil ich sehen wollte, ob Kitty vielleicht doch noch gekommen war. Stattdessen erblickte ich Schwester Hildebrand in einer der hinteren Bänke. Sie hatte ein Taschentuch in der Hand, verbarg es jedoch schnell in ihrem Kleid, als sich unsere Blicke trafen.
    Kurz nachdem die Kerzen angezündet worden waren u nd der Chor »Hark! The Herald Angels Sing« angestimmt hatte, entstand Unruhe im hinteren Teil der Kapelle. Ich hörte, wie die Kapellentür zugeschlagen wurde und die Leute sich auf ihren Plätzen bewegten. In der Bank hinter mir rang eine Krankenschwester nach Luft.
    »Was ist denn los?«, flüsterte ich Stella

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