Einem Tag mit dir
ins Ohr, da ich nicht erkennen konnte, was vor sich ging.
»Das ist los«, erwiderte sie süffisant und deutete mit dem Kinn auf den Mittelgang.
Atea kam den Mittelgang herunter – die barbusige, schöne Atea mit verweintem Gesicht. Sie war genauso schön wie an jenem Tag auf dem Markt, auch wenn ihr jetzt die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben war.
»Wo ist er?«, schrie sie und suchte die Menge mit den Augen ab. »Warum ist er nicht hier?«
Einer der Männer stand auf und nahm sie am Arm. »Sie stören den Weihnachtsgottesdienst!«
Sie entwand sich seinem Griff. »Fassen Sie mich nicht an! Wo ist er? Er lügt. Ich finde ihn. Und ich erzähle es allen.«
Der Soldat verstärkte seinen Griff und wollte Atea zur Tür zerren. Sie wimmerte laut.
»Halt!«, rief ich und wedelte mit den Armen. Ich spürte, wie ich wieder schwach wurde, hielt mich jedoch an der Kirchenbank fest. »Ich kenne diese Frau. Lassen Sie mich mit ihr reden.«
Niemand schien etwas dagegen zu haben, also trat ich zu ihr und lächelte sie freundlich an. Mit ihren großen braunen, vom Weinen rot geränderten Augen musterte sie mein Gesicht, um zu prüfen, ob sie mir vertrauen konnte.
»Wollen wir uns lieber draußen unterhalten?«, fragte ich sie, als wäre außer uns niemand da.
Sie nickte und folgte mir hinaus. Wir gingen schweigend über den Schotterweg, der zum Strand führte. Der Wind hatte zugenommen, aber der störte uns nicht.
Wir setzten uns auf ein Stück Treibholz am Strand.
»Ich bin Angst«, sagte sie.
»Sie meinen, Sie haben Angst?«
Sie nickte.
»Wovor denn? Wovor haben Sie Angst?«
»Vor dem Mann«, sagte sie schlicht.
Lance . Meine Wangen glühten vor Wut. Stella hatte also recht gehabt.
Ich nickte. »Was hat er Ihnen getan, Atea?«
»Er hat mir wehgetan«, erwiderte sie und zeigte auf ein Hämatom am Handgelenk und noch eins am Oberarm, das violett und schwarz leuchtete.
»Wie schrecklich«, sagte ich entsetzt. »Aber warum sind Sie heute Abend in die Kapelle gekommen?«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Alle sollen wissen, was er getan hat«, flüsterte sie, »dann kann er Atea nicht mehr wehtun.«
»Atea«, sagte ich. »Sie müssen hier weg. Wenn er Ihnen etwas antun will, findet er eine Möglichkeit. Sie müssen weit weggehen und dürfen nicht wiederkommen.«
Sie sah mich verwirrt an. »Wo soll ich denn hin?«
»Haben Sie niemand, wo Sie bleiben können? Ihre Mutter oder eine Großmutter oder eine Tante?«
»Nein«, sagte sie, »ich habe nur Tita.«
»Wer ist Tita?«
»Eine alte Frau. Sie kümmert sich um uns alle.«
Ich nickte. Plötzlich kamen mir meine eigenen Probleme völlig nebensächlich vor. »Also gut«, sagte ich. »Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben.«
Sie wirkte sehr beunruhigt. »Aber wenn er kommt? Was dann?«
»Was meinen Sie damit, wenn er kommt?«
»Er kommt bestimmt.«
Ich tätschelte ihren Arm. »Sehen Sie das weiße Gebäude dahinten und das Fenster an der Ecke im ersten Stock, gleich neben der Palme?«
»Ja«, sagte sie kleinlaut.
»Das ist mein Zimmer. Sie rufen einfach zu mir herauf, wenn Sie irgendetwas brauchen oder wenn Sie Angst ha ben. Wir lassen die Fenster immer offen. Ich höre Sie dann schon.«
Sie musterte mich mit ihren großen, vertrauensvollen Augen. »Und wenn Sie nicht da sind?«
»Dann laufen Sie den Strand hinunter«, sagte ich. »Nach ein paar hundert Metern sehen Sie eine kleine Hütte, ein bisschen versteckt im Gebüsch. Die Tür ist abgeschlossen, aber den Schlüssel finden Sie in einem Buch unter der Treppe. Hier weiß niemand etwas davon. Da sind Sie in Sicherheit.«
Ateas Augen weiteten sich. »Das Haus von dem Künstler?«
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich versteh nicht, was Sie meinen.«
»Der Maler. Niemand geht dahin. Tita sagt, dort sind böse Geister.«
»Böse Geister?«
»Ja.«
»Und glauben Sie das auch?«, fragte ich.
Atea zuckte die Schultern. »Vielleicht, aber wenn ich muss, geh ich hin.«
»Na also.«
Atea lächelte.
»Es wird alles gut«, sagte ich. »Ganz bestimmt. Dafür werde ich sorgen.«
»Wirklich?« Sie sah mich hoffnungsvoll an. Sie war so schön und wirkte zugleich so unschuldig und ängstlich. Ich schwor mir, dass ich sie beschützen würde. Und ich würde mit Westry über Lance sprechen. Ich würde dafür sorgen, dass Lance Atea nie wieder wehtat.
»Wirklich«, versicherte ich ihr.
Sie atmete tief aus und stand auf.
»Noch etwas, Atea«, sagte ich. »Wenn Sie Lance begegnen, dürfen Sie
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