Einem Tag mit dir
der Insel hat’s mir erzählt«, antwortete ich.
Westry betrachtete das Bild genauer. »Es ist nicht signiert«, bemerkte er.
»Vielleicht hat er seine ersten Werke einfach nicht signiert.«
»Da könntest du recht haben«, räumte Westry ein. »Monet hat das am Anfang auch nicht gemacht.«
Ich nickte zustimmend. »Sieh dir bloß mal die Pinselführung an.«
»In diesem Bild kann man sich verlieren«, murmelte er, immer noch voller Staunen über den Schatz, den er da in Händen hielt.
»Was machen wir jetzt damit?«, fragte ich, während ich Westrys zerknittertes Hemd glättete.
»Keine Ahnung.«
»Wir können es jedenfalls nicht hierlassen«, sagte ich. »Ich meine, wenn der Krieg vorbei ist, wenn wir von hier fortgehen. Der Gedanke, dass es von einer Flutwelle verschluckt werden könnte, wäre mir unerträglich.«
Westry stimmte mir zu. »Oder dass es in der feuchten Luft Schaden nimmt. Es wundert mich sowieso, dass es hier so lange überdauert hat.«
Ich hängte das Bild wieder an die Wand und seufzte. »Vielleicht gehört es auch einfach hierher.« Eine Weile betrachtete ich die romantische Szene, dann schaute ich Westry an. »Es gibt noch etwas, das ich dir erzählen muss. Etwas über die Hütte.«
»Ja?«
»Die alte Frau, Tita, hat mich vor der Hütte gewarnt. Sie sagt, wer sie betritt, lebt bis an sein Lebensende mit einem Fluch.«
Westry musste grinsen. »Und du glaubst an diesen Voodoozauber?«
»Na ja, es hat mir schon ein bisschen Angst ge macht.«
»Anne, erinnerst du dich noch, worüber wir an dem Tag sprachen, an dem wir uns kennengelernt haben? Da hast du mir gesagt, dass es im Leben um den freien Willen geht.« Er streichelte mir übers Haar. »Dein Leben wird reich und erfüllt von Liebe sein, weil du dich dafür entschieden hast.«
Ich nahm seine Hand. »Du hast recht.«
»Außerdem«, fuhr er fort, »denk doch mal an all das Gute, das diese vier Wände schon hervorgebracht haben. Wir beide haben uns hier gefunden. Ein Kind wurde hier geboren. Und womöglich haben wir hier eins der größten Kunstwerke unseres Jahrhunderts entdeckt. Würdest du das etwa als einen Fluch bezeichnen?«
Während wir dasaßen und auf das Rauschen der Wellen lauschten, betete ich im Stillen: Bitte, lieber Gott, mach, dass er recht behält .
Die Zeit wurde knapp, das wussten wir alle. Der Mai war wie ein Sturm vorübergeweht, und Kitty und ich würden die Insel Mitte Juni verlassen, wenn Westry und die anderen Männer zu einem neuen Einsatz aufbrechen würden – diesmal in Europa. Mir war beinahe, als könnte ich die Uhr ticken hören, wie eine ständige Erinnerung daran, dass das Leben, das wir gerade erst kennengelernt hatten, einem abrupten Ende entgegenstrebte.
Ich würde Gerard gegenübertreten müssen. Kitty würde die Insel verlassen müssen, auf der ihre Tochter geboren worden war. Wir waren nicht mehr dieselben Frauen, die Seattle verlassen hatten. Wie sollten wir in unser altes Leben zurückkehren, an diesen fremden Ort, der einmal unsere Heimat gewesen war?
»Ich glaube, ich bleibe hier«, sagte Kitty eines Morgens Anfang Juni in der Kantine. »Schwester Hildebrand kann jede Hilfe gebrauchen. Außerdem wartet in Seattle sowieso niemand auf mich.«
Es war nicht als Vorwurf gemeint, aber ihre Worte und die lange Pause, die darauf folgte, versetzten mir einen Stich. Sie hatte einen wunden Punkt getroffen. Gerard würde in Seattle auf mich warten. Er würde im Juni nach Amerika zurückkehren.
Ich dachte darüber nach, warum Kitty auf der Insel bleiben wollte. Sie war nicht mehr die Frau, die mit mir aus dem Flugzeug gestiegen war, sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Leer. Abwesend. Verloren. Sie stürzte sich Tag für Tag in die Arbeit und verbrachte jede Minute im Lazarett.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte ich, während ich ein hart gekochtes Ei pellte. »Hast du denn gar kein Heimweh? Möchtest du nicht weg von der Insel nach … nach allem, was passiert ist?«
Sie schaute aus dem Fenster und betrachtete die saftig grünen Hügel in der Ferne. Ich würde die Erinnerungen an diesen Ort auf immer in meinem Herzen tragen, und ich hatte das Gefühl, dass auch Kitty einen Teil von sich hier zurücklassen würde.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich dachte, ich würde mich freuen, nach Hause zu fahren, wenn die Zeit um ist«, sagte sie. »Aber jetzt merke ich, dass ich einfach noch nicht so weit bin.«
Ich nickte.
»Die vergangenen Monate sind ganz anders verlaufen, als wir uns
Weitere Kostenlose Bücher