Einem Tag mit dir
mir die Hände an meinem Rock abwischte.
»Komm«, sagte er. »Ich weiß, dass das alles schlimm für dich war, aber wir müssen diese Sache …« Er suchte nach den passenden Worten. »Wir müssen diese Sache jetzt irgendwie durchstehen.«
Ich nickte und folgte ihm zu dem Grab, das er ausgehoben hatte. Dort wartete ich, während Westry Atea holte. Als er mit der Toten in den Armen zurückkehrte, brach ich erneut in Tränen aus.
Er legte die Leiche in die Grube, und eine Weile be trachteten wir sie schweigend. Als Westry schließlich nach der Schaufel griff, packte ich seinen Arm. »Noch nicht!«, sagte ich.
Ich pflückte drei rosafarbene Plumeriablüten von einem Baum und kniete mich neben das Grab. »Sie hat Blumen verdient«, sagte ich, ohne den Blick von Ateas Gesicht abzuwenden.
Ich streute die Blumen auf ihren Körper, und als Westry begann, das Grab zuzuschaufeln, wandte ich mich ab. Ich konnte es nicht ertragen zuzusehen, zwang mich jedoch zu bleiben, bis er fertig war. Schweigend gingen wir zur Hütte zurück. Unsere Welt hatte sich verändert – vielleicht für immer.
Es war schon fast drei Uhr in der Nacht, als ich mich in mein Zimmer schlich. Kitty rührte sich nicht, was ein Glück war, denn so brauchte ich ihr nicht zu erklären, warum mein Kleid zerrissen, verdreckt und mit Blut beschmiert war. Ich zog mich aus, stopfte mein Kleid in den Papierkorb, schlüpfte in mein Nachthemd und kroch ins Bett. Aber ich konnte nicht schlafen. Ich wusste, dass wir kein Verbrechen begangen hatten, aber mich quälte der Gedanke, dass wir eine schreckliche Schuld auf uns geladen hatten.
Am nächsten Morgen wurde ich aus dem Schlaf gerissen, als jemand mit der Faust gegen unsere Zimmertür hämmerte. Verwirrt setzte ich mich auf und schaute zu Kittys Bett hinüber, das ordentlich gemacht war. Draußen war bereits heller Tag. Wie spät mochte es sein?
Erneut wurde gegen die Tür gepoltert. »Ich komme ja schon«, murmelte ich verschlafen, stand auf und stolperte zur Tür. Stella stand im Flur. Sie runzelte die Stirn und sah mich tadelnd an.
»Anne, was ist los mit dir?«, sagte sie. »Es ist halb zwölf. Schwester Hildebrand ist außer sich. Sie hat mich hergeschickt, um dich zu holen. Deine Schicht hat um acht Uhr angefangen.«
Ich warf einen Blick auf den kleinen Wecker auf meinem Nachttisch. »O Gott«, sagte ich. »Ich fasse es nicht, dass ich so lange geschlafen habe.«
Stella grinste. »Das muss ja eine aufregende Nacht gewesen sein.« Sie musterte mich von oben bis unten. Ihr Blick blieb an meinen Händen hängen. »Was habt ihr denn gemacht? Im Dreck gebuddelt?«
Ich betrachtete meine schwarzen Fingernägel und verbarg sie schuldbewusst in den Falten meines Nachthemds. Im selben Augenblick kam die Erinnerung an die vergangene Nacht wieder zurück. Der Mord. Das Messer. Die Vertuschungsaktion. Westrys Warnung. Ich hoffte, dass Stella die Gänsehaut nicht bemerkte, die sich plötzlich auf meinen Armen bildete.
»Sag Schwester Hildebrand, ich komme sofort«, bat ich sie. »Ich zieh mich nur schnell an.«
»Und wasch dich«, fügte sie mit einem spöttischen Grinsen hinzu.
Ich nickte. »Stella!«, rief ich hinter ihr her.
»Ja?« Sie drehte sich um.
»Warum ist Kitty nicht raufgekommen, um mich zu wecken?«
»Das habe ich mich auch gefragt«, antwortete Stella ohne sarkastischen Unterton, was ungewöhnlich für sie war. »Irgendwas stimmt nicht mit ihr. Es ist, als wäre sie nicht mehr …«
»Als wäre sie nicht mehr meine Freundin?« Der Gedanke war mir unerträglich.
Stella kam noch einmal zurück und legte mir eine Hand auf den Arm. »Mach dir keine Gedanken«, sagte sie. »Was auch immer es sein mag, das gibt sich schon wieder.«
Ich hoffte inständig, dass sie recht hatte.
Seit Kitty ihr Kind zur Welt gebracht hatte, waren sie und Schwester Hildebrand auf seltsame Weise Freundinnen geworden. Kitty blieb häufig noch bis spätabends im Lazarett, um der Oberschwester zur Hand zu gehen, und sie wurde immer als Erste gerufen, wenn besondere Aufgaben anstanden oder einer der Patienten intensivere Pflege brauchte.
Es war schön zu sehen, wie erfolgreich Kitty in ihrem Beruf war. Das hatte sie sich schließlich gewünscht. Und hier im Lazarett konnte sie wirklich etwas Sinnvolles tun. Aber je mehr sie sich in die Arbeit stürzte, umso verschlossener wurde sie.
Zu Hause in Seattle wäre die Veränderung viel auffälliger gewesen, aber wir waren im Krieg, und unsere persönlichen Probleme wurden
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