Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
Buckelwiesen bis ins Tal hinein wie eine Zwangsjacke. Die Bänke vor der Kirche wurden zu Tageswaisen, Handwerker und Bauarbeiter verzichteten auf ihre Brotzeit. Die Kabinen ihrer Transporter blieben leer, große Leberkäsestücke trieften unberührt in den Metzgereien vor sich hin, nur das Bier, das tranken sie immer noch, lustlos und neben der Arbeit her, für die sie länger brauchten als gewöhnlich.
Ich spürte, dass ich in etwas hineingeraten war, dass das Hinterland, seine Wege, die wir täglich auf und ab trotteten, seine Gesetze, die noch nicht sehr tief saßen, die immer gleichen Leute, die, eingelassen in die Fassaden ihrer Häuser, auf unseren Gruß lauerten, mir fremd wurden. Ich erinnere mich an jenes Frühsommerlicht, das schräg durch die Kastanienbäume brach, den Vorplatz der Kirche in surrende Zitronennebel hüllte und an der angrenzenden Auslage der Bäckerei Grant abprallte, so dass die Strahlen vor den klebrigen Marmeladenöffnungen der ausgestellten Krapfen zerstieben und ich auf dumme Gedanken kam und glaubte, das Licht breche direkt aus den Krapfen heraus. Wahrscheinlich lächelte ichdarüber, und Johanna fragte mich etwas oder machte eine Bemerkung, doch ich hörte nicht hin. Ich folgte dem Brahmanen durch die krapfengeborenen Lichtstrahlen, bis er hinter der Ecke des Reformhauses Meininger verschwunden war. Ich starrte noch einige Sekunden in Richtung Latschenkiefernöl und Knoblauchdragees, dann puffte mich Johanna leicht mit dem Ellbogen in die Seite und zog mich die drei Stufen hinunter in die Bäckerei Grant, wo sie noch immer wie zu Grundschulzeiten zwei Schlümpfe, drei Erdbeeren, drei Kirschen und vier saure Zungen kaufte. Träge schlurften wir über die Pflastersteine, die Blicke der Alten auf den Bänken auf unsere Rücken geheftet, während wir, schmatzend und schnalzend, das Fruchtgummi aus unseren Zähnen pulten. Ich dachte an den Brahmanen und die Sportbuben, Johanna an die Heiligen.
Johanna fragte nicht, weshalb ich ihn den Brahmanen nannte. Sie machte sich auch nicht lustig darüber, sie verstand. Er hieß Hans Kohls und lebte mit einer ältlichen Frau, die nicht seine Mutter, wohl aber eine Verwandte war, zusammen im einzigen noch bewohnten Haus der Schustergasse, dem letzten in der Reihe der baufälligen Hinterhäuser, die die einheimischen Bauern als Stall für ihre Tiere oder zum Unterstellen ihrer Fahrzeuge und Gerätschaften nutzen. Er war ein lediges Kind, seine Mutter früh gestorben, vom Vater war nichts bekannt. Mehr ließ sich überHans Kohls nicht in Erfahrung bringen, auch nicht bei den Alten auf den Bänken. Wenn er vorüberging, taten sie so, als würden sie ihn nicht kennen, und redeten auch dann nicht über ihn, wenn er schon längst außer Hörweite war. Es verwunderte mich nicht, denn er war immerhin ein Brahmane, er lebte außerhalb ihrer Ordnung, ihre Netze und Fallstricke reichten dort nicht hin. Sein glasiger Blick ließ sich nicht fangen, er schaute immer hindurch auf etwas, das dahinterlag und nur von Brahmanen gesehen werden konnte. Einzig Karl Rieder senkte nicht den Blick, wenn Hans Kohls vorüberging.
Ende Juni bezog Johanna das Gartenhaus. Herr Luger hatte es seiner Frau als Atelier gebaut, hatte jedoch, damals, noch vor Johannas Geburt, im Bauantrag der Einfachheit halber ein Gartenhaus vermerkt. Das Wort »Atelier«, wusste Herr Luger, hätte die Hinterlandbewohner irritiert, und Irritationen, auch das wusste Herr Luger, musste einer wie er, der die Ruhe, die Nichtbeachtung und das Verschwinden schätzte, im Hinterland vermeiden. Herr Luger verkehrte nicht mit den Hinterlandbewohnern, er hatte keine Freunde unter ihnen und suchte nicht die Plätze ihrer Zusammenkünfte auf. Die Hinterlandbewohner nahmen das nicht persönlich, sie wussten von ihren Vätern und Großvätern und Müttern und Tanten, dass auch dieser ihre Gemeinschaft meidendeLuger in seinem »Außen vor«-Sein, wie sie es nannten, nur einer aus der langen Kette der Luger war, die alle die Gemeinschaft mit den Hinterlandbewohnern von jeher gemieden hatten. Man konnte noch nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, dass sie diese Gemeinschaft vielleicht nicht doch gewollt hätten. Es hatte mit der Lage ihres Hauses zu tun, wussten die Weisen unter den Hinterlandbewohnern, hundert Stufen hoch über dem Dorf in den Fels hineingebaut, beinah auf einem Plateau, lag es »außen vor«. Die Möglichkeit, dass das Außen-vor-Sein des Herrn Luger ein anderes Außen-vor-Sein als das seines
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