Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
auf eine Extravaganz zurück, die nicht mit der Lage des Hauses der Lugers zu erklären war. Es war eine Extravaganz, für die die Hinterlandbewohner allesamt nicht befähigt waren, auch die Lugers nicht, eine, die von außen kommen musste: Sie machten Frau Luger für den unverständlichen Gesinnungswandel ihres Mannes verantwortlich. Natürlich wussten auch die Alten, dass Frau Luger nur eine äußerst unbefriedigende Erklärung war, denn es mussteja schon vor ihr etwas im Luger gewesen sein, das ihn auf so eine hinterlanduntypische Extravaganz, wie sie Frau Luger zur Schau stellte, hatte hereinfallen lassen, und selbst wenn man diesen dem Luger inhärenten Hang zum Abwegigen außer Acht ließ, dann war da noch immer ein Widerspruch, der sich weder wegdenken noch -reden ließ: eine Extravaganz wie die der Frau Luger – wo auch immer sie sie herhaben mochte, aus dem Norddeutschen, vermutete man –, ja, eine solche Extravaganz müsse man sich erst einmal leisten können, und da wäre eine geregelte Arbeit allemal geeigneter als dieses »Herumgeeire«, wie sie es nannten, dieses Hinundhergetingle des Herrn Luger, das zwar jetzt noch so einigermaßen gutgehe, doch in ein paar Jahren, wenn auch er anfinge, das Alter zu spüren, würde die ganze Sache anders aussehen. Der Luger ließ die Alten auf den Bänken nie ganz los, in den Sommerferien, wenn die Jungen im Urlaub waren und nichts passierte und alles stillstand, dann rollten sie den Fall Luger wieder auf: Warum war der Luger nicht mehr so vernünftig wie sie, was hatte ihn von der geregelten Arbeit abgebracht? – Um diese Fragen kreisten die Gespräche der Alten auf den Bänken, wenn ihnen langweilig war, und erst wenn sie sie wirklich beantwortet hätten, das wussten sie, würde sich auch die Schadenfreude über das in ihren Augen missglückte Leben des vorläufig letzten Stammhalters der Luger in voller Pracht entfalten.
Mehr als die Gründe für Herrn Lugers ungeregelte Arbeit beschäftigten mich die Folgen: Man wusste nie mit Bestimmtheit, wann und wie lang Herr Luger zu Hause sein würde. Wäre das bei gewöhnlichen Hinterlandvätern der Fall gewesen, es hätte zu massiven Verunsicherungen und einer deutlich verminderten Lebensqualität der anderen Familienmitglieder geführt. Denn die Abläufe und die Regungen und das Leben in gewöhnlichen Hinterlandhaushalten werden durch die Determinanten Anwesenheit und Abwesenheit der Väter bestimmt. Alles, was Geräusche verursacht – Reinigen, Kochen, Reden, Streiten, Lachen, Gespräche aller Art – , fällt in die Zeit der Abwesenheit der Väter, während die Zeiten ihrer Anwesenheit, die Zeiten, in denen sie nicht ihrer geregelten Arbeit nachgehen, die Abende, der Samstag und der Sonntag, beinahe anorganischer Natur sind, ein kollektives Luftanhalten der Kinder, ein geschmeidiges Im-Vakuum-Hantieren der Mütter. Doch schwebt über den Zeitungsmauern, über dem Befehl an die Mutter, die Sportkleidung herbeizuschaffen, über den gemurrten Beschwerden, den Zustand des Gartens betreffend, immer auch die Gewissheit der geregelten Arbeit, eines neuen Morgens, einer neuen Woche, die Patriarchen würden wieder über die Türschwellen treten, so viel war sicher, und hinter ihnen würde es dann von neuem zu atmen und zu blühen beginnen. Ohne diese Sicherheit hätten wir Kindernie so lange die Luft anhalten können, die Mütter die schlechte Laune und die Beschwerden nicht so lange lächelnd hinnehmen können. Das alles funktionierte nur, weil wir wussten, dass wir sie am Morgen oder am Montag wieder los sein würden. Bei Johannas Vater gab es diese Sicherheit nicht, und zuerst schockierte mich die Vorstellung eines unabsehbar lange zu Hause bleibenden Vaters, doch Herr Luger war anders als die anderen Hinterlandmänner.
In seiner Anwesenheit musste man die Luft nicht anhalten, es ging immer alles so weiter wie bisher, es spielte keine Rolle, ob er da war oder nicht. Er beschwerte sich nie. Er wurde in Ruhe gelassen, ohne es zu verlangen. Frau Luger beschäftigte sich im Haus oder in den Blumenbeeten, und er streifte durch seinen großen Garten, als sei es unbekanntes Territorium, schüchtern und neugierig, nicht wie ein Herr im Haus. Einmal beschnitt er die Tannen, und selbst das tat er wie zufällig, das Wichtigtuerische und Aggressive, das solchen Aktivitäten bei anderen Vätern immer anhaftet, fehlte ihm völlig. Wenn er an den aufgeschobenen Schiebetüren des Ateliers vorbeikam, die immer gleichen Lieder aus dem
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