Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
Kassettenrekorder leiern hörte, schaute er zu uns hinein, ohne etwas zu sagen. Oft bemerkten wir ihn erst nach einigen Minuten. Wie ein ausgegrenztes Kind, das mitspielen möchte, stand er da, und dann herrschte eine große Verlegenheit, und er fragte: »Und was macht ihr so?«
Und Johanna sagte dann, nicht unfreundlich: »Wir lernen.«
Und dann lächelte Herr Luger, es war ein schreckliches Lächeln, eines, das man benutzt, wenn man nicht weinen will, und sagte: »Lernen ist gut. Lernt nur weiter, dass ihr was Vernünftiges werdet.« Und er sprach es nicht aus, es war auch nicht nötig, wir verstanden auch so, dass wir nicht so werden sollten wie er.
Nach unserer ersten Gartenhauswoche rief meine Mutter bei Frau Luger an. Ob es denn recht sei, dass die Annemut so viel bei Ihnen sei, ob sie denn auch wirklich keine Umstände mache. Frau Lugers Antwort auf diese anstandsbedingte Nachfrage verstörte meine Mutter derart, dass sie sich mir in den Weg stellte, als ich abends hastig durch die Hintertür kam und, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zu unseren Zimmern hinaufjagte, um mir frische Kleidung zu holen. Sie berührte mich am Oberarm. Eine Geste, die ich noch nie von ihr erlebt hatte und von der ich annahm, dass sie für ganz schlimme Situationen, mindestens Todesfälle, reserviert war. Ich blieb sofort stehen.
»Was ist?«, fragte ich.
»Weißt du, was die Lugerin gesagt hat, als ich angerufen habe, um noch mal nachzufragen, ob das auch wirklich in Ordnung ist, dass du immer bei ihnen bist?«
»Keine Ahnung, was hat sie denn gesagt? Passt es ihr nicht?«
»Also, ich habe gefragt: ›Macht das auch wirklich keine Umstände, wenn die Annemut immer bei Ihnen übernachtet?‹ Und dann hat sie erst einmal gar nichts gesagt, die Lugerin, und ich habe schon gedacht, oje, das passt ihr nicht, und dass sie sich’s halt nicht zu sagen traut, und dann sagt sie: ›Sie leben im Gartenhaus. Sie sind so glücklich.‹ Und sonst nichts weiter, das war alles, was sie gesagt hat, mit so einer komischen Stimme, du weißt ja, wie die Lugerin redet, also wenn du mich fragst, Annemut, die Lugerin hat einen ganz schönen Schuss.«
Aus dem Stand nahm ich die letzten drei Stufen, die Hand meiner Mutter fiel schlaff von meinem Arm, ich stopfte Unterhosen, Kleider und T-Shirts in eine Plastiktüte, und ja, wir waren glücklich.
Die Gartenhauszeit hatte ihren eigenen Rhythmus, der nur schwer mit den Abläufen eines gewöhnlichen Hinterlandtages in Einklang zu bringen war. Zuerst kappten wir die Essenszeiten. Johanna kündigte die regelmäßigen Mahlzeiten mit ihren Eltern auf, um die ich sie immer beneidet hatte, und beauftragte ihre Mutter, uns das Essen ins Gartenhaus zu bringen. Mir war das unangenehm, ich schlug vor, das Essen wenigstens selbst zu holen, doch Frau Luger bestand darauf, uns zu bedienen. Die Nachmittage gingen jetzt nahtlos in Abende und Nächte über, wirtrieben zwischen Zeitschriften und Märtyrerbildern, zwischen Suede und Pulp, zwischen Campingplatz, Pony-Koppel und Wasserfallbassin dahin, und auch das Klingeln des Weckers jeden Morgen um halb sechs und die daran anschließenden, nicht weniger unangenehmen und übermüdeten Vormittage und frühen Nachmittage in der Schule, unsere letzten Marksteine, die verhinderten, dass wir vollends aus der Zeit fielen, würden bald überwunden sein. Noch vier Wochen bis zu den Sommerferien. Die Lehrer sprachen von Endspurt. Die Lehrpläne sahen »Aufklärung« vor.
Fachmänner und -frauen wurden eingeladen, um uns über Drogen und Sexualität zu informieren, ein extra Elternbrief wurde versandt, in dem stand, dass es darüber hinaus darum gehe, ein anregendes und offenes Klima zu schaffen, in dem die Mädchen sich trauten, ihre Fragen zu stellen, Erfahrungen ausgetauscht und Ängste abgebaut werden konnten. Inhalte sollten auf spielerische Weise vermittelt werden, ohne dabei an Nachdruck und Bedeutsamkeit einzubüßen. Uns schwante Schlimmes, doch weder Frau Luger noch meine Mutter unterschrieb den Befreiungsabschnitt. Wir baten sie vergebens, religiöse oder weltanschauliche Einwände zu haben. Besondere Sorge bereitete mir die Formulierung »Erfahrungen austauschen«. Ich hoffte sehr, dass die Klassenkameradinnen auch an den Tagen der Aufklärung sosein würden, wie wir sie kannten und wofür wir sie verachteten: redselig, mit dem Hang zur Selbstdarstellung, und dass wir, die wir gewöhnlich immer von Lehrern adressiert wurden, wenn es darum ging, im
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