Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
aufzuhören. Wir wurden von Tag zu Tag schneller. Als wir das erste Mal die Fünfundvierzigminutenmarkeunterschritten, jubelten wir. Wir entschlossen uns, zusätzlich die Vertretung für einen zweiten, am Ortsrand gelegenen Bezirk zu übernehmen. Hier mussten nur halb so viele Zeitungen ausgetragen werden, allerdings waren hier die Wege weiter. Viele der Häuser waren von großen Gärten umgeben, die wir, um zu den Briefkästen an den Hauseingängen zu kommen, zu durchqueren hatten.
Als die Schule wieder anfing, gaben wir den Bahnhofsbezirk ab, den Außenbezirk, der sich über den letzten Abschnitt der Hauptstraße und drei Nebenstraßen bis zur Pension Malinowski erstreckte, behielten wir. Jetzt, wo wir in derselben Zeit nur einen Bezirk zu beliefern hatten, trat der sportliche Aspekt in den Hintergrund. Wir gaben die Arbeits- und Straßenseitenteilung auf, eierten, vertieft in unsere Gespräche, unkoordiniert von einer Seite zur anderen. Manchmal bemerkten wir erst, wenn wir schon vor den Briefkästen an der Haustür standen, dass wir die Zeitungen vergessen hatten. Wir liefen dann zusammen zurück zum Wägelchen, rissen nach Gutdünken ein paar Zeitungen heraus und rannten quer über die Straße zurück zu den Briefkästen. Es gab jetzt manchmal Beschwerden von Abonnenten, weil wir sie falsch beliefert hatten. Schließlich hatten wir unsere Austragedisziplin so heruntergewirtschaftet, dass wir sogar rennen mussten, um bis sechs Uhr die Pension Malinowski, unseren Endpunkt, zu erreichen.
Dennoch waren diese Wochen unsere beste Zeit. Ich mochte die stille Gemeinschaft mit den anderen Austrägern, das Quietschen der Gartentore, die taubedeckten Rasen und Hecken. In den frühen Morgenstunden galten andere Hierarchien und Gesetze. Die Straßen gehörten den Tieren. Katzen jagten sich, stürzten geräuschvoll aufeinander, knurrten und jaulten. Dachse, Marder und Füchse schossen unter Autos hervor, verschwanden in Vorgärten und gaben dabei undefinierbare Geräusche von sich – ihre Geräusche, die Geräusche, die sie wohl immer machten, nur wurden sie tagsüber von den Geräuschen der Menschen absorbiert. Die Dämmerung war die Zeit der Ahnungen und des Konjunktivs. Wir kannten dieses Gefühl bereits vom Frühling, als wir die Wege im Wald und den Wasserfall entdeckt hatten. Jeden Morgen liefen wir dieselben menschenleeren Straßen auf und ab. Und während alles schlief, glaubten wir kurz vor einer großen Enthüllung zu stehen. Wir wussten nicht, welcher Art diese Enthüllung sein würde, und manchmal, wenn wir hinter einem der Büsche kauerten, die die gusseisernen Gartenzäune überwucherten, und in eines der wenigen erleuchteten Fenster gafften, fürchteten wir uns sogar vor dieser ominösen Enthüllung und hofften, dass es noch nicht heute geschehen würde, dass uns noch viele von ziellosen Ahnungen durchtriebene Dämmerungen geschenkt würden.
In den meisten Fenstern, in denen um diese Uhrzeit Licht brannte, brannte es jeden Morgen. Die nur ausnahmsweise erleuchteten interessierten uns nicht. Zwar spielten sich dahinter oft wüste Szenen ab, doch die Kämpfe, die hier ausgetragen wurden, hätten sich genauso gut auch tagsüber ereignen können. Es war Zufall, dass sie in die Morgendämmerung fielen. Wir interessierten uns nicht für Zufälle, wir interessierten uns für das, was so nur in der Morgendämmerung gesehen werden konnte. Die Menschen, bei denen zwischen vier und sechs Uhr morgens regelmäßig Licht brannte, waren bis in ihre Gesten hinein beständig. Wir wussten bald, an welchen Wochentagen sie ihre Nachthemden wechselten, kannten die Abfolge ihrer Bewegungen, ihre Gewohnheit, sich direkt aus der Spülmaschine zu bedienen und das Geschirr gar nicht mehr zurück in die Regale und Schränke zu räumen. Sie hatten ihre Stühle und Sessel ans Fenster geschoben und legten ihre Hände um eine Tasse, die sie nur selten an die Lippen führten. Wir fragten uns, ob sie etwas Bestimmtes betrachteten, einen Ausschnitt ihres Gartens, ein Vogelhäuschen oder die Straße. Hin und wieder warfen wir Steine oder Äste über die Hecken, um zu sehen, ob sie reagierten, ob ihr Kopf sich bewegte – sie rührten sich nie. Wir kamen hinter den Hecken hervor und kauerten nun seitlich neben den Fenstern in Blumenbeeten zwischen verblühten Primeln, Veilchen und Nachtschattengewächsen,drückten einen Stapel Zeitungen in unseren Schoß, der aus Voyeuren nötigenfalls schnell Zeitungsausträger machen sollte, und
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