Einer kam durch
von der ungewohnten Nadelarbeit schmerzten, legte er den Rock auf den Tisch der Kabine und sah aus dem Bulleye. Vor ihm lag die alte Festung Greenock, weiter links erhoben sich ein paar Berge, von dünnem Schnee bedeckt. Wenn er die Nase an das Glas preßte, konnte er andere Schiffe sehen, deren Ladebäume sich wie gigantische Arme auf und nieder bewegten. Offenbar Dampfer des Konvois, in dem die ›Duchess‹ die Überfahrt machen würde. Das Wasser des Clyde-Fjords war bräunlich, gerippt von den weißen Wellen, die der Westwind aufwarf. Einmal sah er einen großen Kutter, der bis zum Rand gefüllt mit britischen Krankenschwestern in blauen Umhängen, die offenbar ebenfalls an Bord eines Schiffes gebracht wurden. Was zum Teufel brauchten sie Krankenschwestern in Kanada?
Er nahm die Arbeit an der Jacke wieder auf. Obwohl seine Freunde ihm oft vorwarfen, er habe kein Sitzfleisch und sei nicht imstande, auch nur einen Tag hinter einem Schreibtisch zu hocken, arbeitete er den ganzen 9. Januar hindurch wie ein Besessener.
Wie lange war es nun her, daß er dem englischen Vernehmungsoffizier Major King in Cockfosters eine Wette angeboten hatte? Eine große Pulle Champagner gegen eine Packung Zigaretten, daß er in einem halben Jahr frei und wieder in Deutschland sein würde? Er rechnete nach: Am 5. September war er abgeschossen worden. Die Wette mußte am neunten stattgefunden haben. Das lag jetzt ziemlich genau vier Monate zurück. Noch acht Wochen Zeit. Er war entschlossen, die erste Gelegenheit in Kanada zu nutzen. Diesmal würde er nicht einen zeitraubenden Tunnel graben. Es mußte andere Gelegenheiten geben.
Der Gedanke, seine Uniform zu ändern, war ihm nach seiner Verhaftung auf dem Flugplatz Hucknall gekommen. Immer wieder hatte er die Situation von damals durchgedacht, immer wieder überlegt, wo der schwache Punkt bei seinem zweiten Ausbruch gewesen war. Er hatte gestern noch mit dem langen Oberleutnant Wilhelm darüber gesprochen, dem abgeschossenen Stukaflieger. »Es war eben Pech«, hatte ihn Wilhelm getröstet.
Aber Werra ließ das Wort ›Pech‹ nicht gelten. »Ich will Ihnen sagen, was es war, Wilhelm«, sagte er. »Es war die Uniform. Ich hätte eine englische Offiziersuniform besitzen müssen. Sehen Sie, dieser Mr. Boniface wollte doch von Anfang an wissen, was ich unter meiner Kombination trug. Hätte ich eine RAF-Uniform besessen, wäre alles gut gewesen. Er hätte mir geglaubt. Und er würde es nicht so verdammt eilig gehabt haben, Aberdeen anzurufen und sich nach mir zu erkundigen.«
»Aber wie in aller Welt wollen Sie an so eine Uniform kommen?« fragte Wilhelm.
»Das muß eben überlegt werden …«
Werra hatte in den nächsten Tagen scharf darüber nachgedacht und war schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß eine Offiziersuniform der Royal Air Force unmöglich zu beschaffen war. Die britischen Flieger hielten wie ihre Kameraden in Deutschland auf Formen und trugen nur maßgeschneiderte Anzüge. Mit den Mannschaften und Unteroffizieren sah es anders aus. Die trugen Zeug, das sie in der Kammer gefaßt hatten. Er begann das Aussehen der britischen Feldwebel genau zu studieren. Der Rock war etwas weiter geschnitten, die Taschen waren anders als die deutschen Uniformtaschen; außerdem trugen die Engländer einen breiten Gürtel, der mit einer Spange zusammengehalten wurde. Der Gürtel bestand aus dem gleichen Stoff wie die Jacke, aus graublauem Fliegertuch.
Während des großen Ausverkaufs in Swanwick, als die Nachricht von dem Transport nach Kanada bekannt wurde, hatte er sich bemüht, alles zu kaufen, was dazu dienen konnte, seine Uniform in die Jacke eines britischen Feldwebels zu verwandeln. Unter anderem hatte er eine alte Fliegerhose erstanden, die Stoff für den Gürtel hergeben sollte. Mit einer Sorgfalt, die ihm gewiß niemand zugetraut hätte, schnitt er lange Streifen Stoff aus der Hose, legte sie zusammen, befestigte die Kanten zunächst mit Reihfäden und nähte sie dann fest zusammen. Die Spange, die den Gürtel hielt, bog er sich aus einem Pfeifenreiniger und einer Stricknadel zusammen. Was ihm noch fehlte, waren Winkel aus Stoff, die auf den Ärmel genäht werden mußten. Er war darüber nicht weiter beunruhigt. Auch die Winkel würden sich zur rechten Zeit finden …
Zu Mittag gab es ›Churchill-Würstchen‹, eine englische Erfindung – Würstchen aus wenig Fleisch und viel Brot, dazu vermanschte Salzkartoffeln. Die Engländer gaben sich nicht allzu viel Mühe mit
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