Einer kam durch
dem Speisezettel. Andererseits hatten sie selber wenig zu beißen. Werra aß hastig und ohne Appetit. Als es dunkel wurde und die Signallampen an der Küste aufflackerten, war er mit seiner Jacke fast fertig. Nur die Schlaufen für den Gürtel fehlten noch. Er schnitt sie aus dem Hosenstoff aus, legte sie zusammen und maß ihre Länge ab. Plötzlich warf er den ganzen Kram auf den Tisch und stürzte ans Bulleye. Die ›Duchess of York‹ hatte einen dumpfen Sirenenton ausgestoßen, ihre Maschinen begannen zu arbeiten, vorn ratterte die Ankerwinsch, die Trillerpfeifen der Bootsmänner zwitscherten. Die Reise nach Kanada hatte begonnen … In Wirklichkeit hatte sie noch nicht begonnen. Die ›Duchess of York‹ lief bei anbrechender Abenddämmerung des 9. Januar ein Stück aus dem Clyde-Fjord hinaus, stoppte, drehte langsam um und kehrte wieder zu ihrem alten Liegeplatz zurück. Warum das geschah, erfuhr niemand. Jedenfalls begann ihre eigentliche Ausfahrt erst am 19. Januar. Wahrscheinlich war das Manöver dazu bestimmt, etwaige deutsche Spione über den Fahrplan des Geleitzuges zu täuschen.
***
Den größten Teil des nächsten Tages benötigte das Transportschiff, um aus den Küstengewässern Schottlands und Irlands herauszukommen. Erst gegen Abend erschien der britische Offizier, der Werra sechsunddreißig Stunden zuvor eingesperrt hatte, und geleitete ihn zum Achterschiff. Franz von Werra trug seinen blauen Mantel über der Uniform. Die Soldaten, die sich schließlich an seine Schneiderarbeit gewöhnt hatten, erstatteten keine besondere Meldung darüber.
Um so mehr Gelächter gab es, als Werra bei seinen Kameraden erschien. Auf dem Weg vom Vorschiff zum Achterschiff war er an der britischen Feldwebelmesse vorbeigekommen. Werra hatte das Gedränge vor dem Eingang benutzt, um in Windeseile eine jener Schiffchenmützen, wie sie von britischen Fliegern getragen werden, vom Nagel zu nehmen und im Mantelärmel verschwinden zu lassen. Nachdem ihn sein Begleiter im deutschen Quartier abgeliefert hatte, war er in seine Kabine gegangen, hatte den Mantel ausgezogen, seinen neuen Waffenrock zurechtgezupft und das Schiffchen aufgesetzt. Es paßte. Er nahm seinen alten Seidenschal aus dem Seesack, legte ihn um den Hals, schob ihn unter den Kragen und ging in den Gemeinschaftsraum, in dem Leutnant Poser, das Musik-Genie von Grizedale Hall und Kranerich, gerade auf dem Klavier spielte. Einen Augenblick lauschte er. Ihm war zumute wie damals, als er zum ersten Male nach Grizedale Hall gekommen war. Auch damals hatte Poser zum ersten Abend musiziert. Plötzlich stieß er die Tür auf. Die Flieger und U-Bootleute in dem halbdunklen Raum sahen die Gestalt eines englischen Feldwebels, der lange nach dem Abendappell ihren Gemeinschaftsraum betrat. Der Engländer schloß die Tür hinter sich und ging auf das Klavier zu. Der Vorgang war ein wenig ungewöhnlich. Der Kerl hätte wenigstens die Mütze abnehmen können, wenn er eine Offiziersmesse betrat. Ein leises Murmeln erhob sich im Raum. Es wurde lauter. Ein U-Bootkommandant stand auf, um den Eindringling auf die richtigen Formen aufmerksam zu machen. Er war noch nicht drei Schritte vorgegangen, als einer rief:
»Verdammt, wenn das nicht Werra ist!«
»Staff-Sergeant Franz von Werra of the Royal Air Force!« sagte der Sergeant und legte die Hand mit jenem eckigen Gruß, wie er auf englischen Kasernenhöfen gelehrt wird, an den Rand seiner Mütze.
Im nächsten Augenblick waren alle aufgesprungen. Poser spielte einen Tusch und schlug den Klavierdeckel zu.
Werra setzte sich an einen Tisch zu einer Gruppe von Marineoffizieren. »Wie ist es, meine Herren«, sagte er, »haben Sie Lust, nach Kanada zu reisen? Ich nicht. Wie wär's denn, wenn unsere Marine den ganzen Dampfer übernimmt und damit nach Frankreich schippert?«
Einige lachten, einige schüttelten den Kopf. »Haben Sie den Konvoi gesehen, in dem wir fahren?« fragte ein U-Bootoffizier. »Fünfunddreißig Schiffe, ein Schlachtschiff, sechs Zerstörer, ein Kreuzer und noch ein paar Korvetten! Nee, mit Ausbrechen und nach Frankreich fahren ist hier nichts, Werra. Die würden uns zusammenschießen, ehe wir richtig Kurs aufgenommen haben.«
»Glauben Sie, daß der Geleitzug nach Kanada geht?« fragte der Flieger.
»Wohin sonst?« wunderte sich der andere. »Wir jedenfalls fahren nach Kanada.«
»Eben«, sagte von Werra. »Wir fahren nach Kanada. Aber die anderen? Ich habe heute ein paar Mal aus meinem Bulleye geschaut. Da
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