Einer kam durch
Merkwürdiges.
Über die Brücke von der ›Duchess‹ zur Halle bewegte sich ein einzelner Mann in einem gutsitzenden blauen Kammgarnanzug. Er trug einen weichen Hut auf dem Kopf und eine Brille auf der Nase. Er ging an den Gefangenen vorbei durch die schmale Gasse der Polizisten zu dem ersten Eisenbahnwagen. Er betrat ihn, ging langsam hindurch und stieg wieder aus. Gerade erhielten die ersten Gefangenen Befehl, zu dem Wagen zu marschieren. Als der Mann die Gefangenen auf sich zukommen sah, wandte er sich nach rechts, schob zwei Polizisten auseinander und sagte in kultiviertem Englisch: »It's allright. Ihr könnt sie jetzt in den Wagen bringen.«
Die Polizisten traten wortlos beiseite. Der Mann schlenderte gemächlich durch die Immigrations-Hall und verschwand gleich darauf im Ausgang. Leutnant Bein starrte ihm fassungslos nach. »Hast du ihn gesehen?« flüsterte er Wacker zu.
»Wen?«
»Den Chief! Er ist gerade rausgegangen. Als Zivilist!«
»Du spinnst!« sagte Wacker.
Aber Leutnant Bein spann nicht. Der Chief, im blauen Anzug, mit Schlapphut und Brille, den die Polizisten offenbar für einen Eisenbahnbeamten gehalten hatten, war unerkannt verschwunden. Es dauerte eine Stunde, bis die Engländer darauf kamen, daß ihnen ein Offizier fehlte, und als sie es wußten, eine weitere Stunde, bis sie seinen Namen hatten.
Doch auch dann hatten sie immer noch keine Ahnung, in welcher Verkleidung der Marineflieger entflohen war. Der Chief schien sich einfach in Luft aufgelöst zu haben.
Natürlich wurde sofort ein Steckbrief gegen ihn erlassen. Doch in Kanada gibt es zahlreiche hochgewachsene blonde Männer mit hellgrauen Augen, die Pfeife rauchen, und die Bilder auf dem Steckbrief zeigten den Chief in Uniform, nicht in seinem blauen Anzug mit Hut und Brille. Außerdem sprach er geradezu perfekt Englisch.
»Der ist imstande und kommt vor mir nach Deutschland«, sagte Werra zu Manhart. »Und ich kann die Zeche in der Pompeji-Bar zahlen.«
»Dazu müsstest du auch erst mal in Deutschland sein.«
»Wird schon werden«, sagte der kleine Flieger. »Ich muß ihn eben unterwegs überholen …«
Sie machten es sich in ihrem Abteil bequem. Draußen wurde es dunkel, doch eine Verladung von tausendfünfzig Gefangenen nimmt Zeit in Anspruch, und die Kanadier waren jetzt gewarnt und doppelt vorsichtig. Erst spät in der Nacht verließ der Zug Halifax.
***
Inzwischen war der Chief, der in seiner Verkleidung wie ein Mathematikprofessor aussah, nach Halifax gegangen. Er besaß ein Bündel englischer Pfundnoten. Mit diesem Geld wollte er sich ein Zimmer mieten und in Ruhe abwarten, bis sich eine Gelegenheit bot, Kanada als blinder Passagier zu verlassen.
Doch bereits eine Stunde nach seiner Flucht traf ihn der erste Schlag. Er betrat einen Zigarettenladen, verlangte ein Päckchen Tabak, und als er sein englisches Geld zückte, sagte der kanadische Tabakhändler: »Bedaure, Annahme von britischer Währung ist bei uns in Kanada untersagt.«
Der Chief versuchte es in Restaurants, bei der Post, in einem Papiergeschäft, zuletzt in einem Blumenladen. Es klappte nicht. Niemand wollte sein Geld haben.
Halifax mit seinen 70.000 Einwohnern war zweifellos eine schöne Stadt. Es besaß die älteste Kirche Neuenglands, es hatte riesige Kontore und Handelshäuser und prächtige Villen von Großkaufleuten und Reedern. Der Chief durchkreuzte es an diesem Abend mehrere Male. Doch er konnte keinen rechten Geschmack an der Schönheit dieser Stadt finden, denn er hatte Hunger, und er fror entsetzlich in seinem blauen Kammgarnanzug.
Obendrein begannen jetzt die Polizisten den einsamen Nachtwanderer, der keinen Mantel besaß, mit Misstrauen zu betrachten. Schnee begann zu fallen und verhüllte das Licht der Straßenlampen. Sein Kragen wurde nass, seine Hände waren steif vor Kälte.
Schließlich fand er den Güterbahnhof und suchte Zuflucht in einem Waggon, dessen Tür offen stand. Er verbrachte dort die miserabelste Nacht seines Lebens.
Am anderen Morgen suchte er, vor Kälte zitternd, den Wartesaal dritter Klasse. Er schlief dort unbeachtet drei Stunden neben der Zentralheizung. Er erwachte in Schweiß gebadet und mit einem mörderischen Hunger. Es gelang ihm, vom ›Counter‹ des Bahnhofswirtes ein belegtes Brötchen zu stehlen. Das blieb die einzige Verpflegung für diesen Tag.
Am Vormittag sah er sich nach einem Quartier für die Nacht um, und er fand in einer Laubenkolonie am Ausgang der Stadt eine einsame, unbewohnte Hütte, die
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