Einer kam durch
perlte der Schweiß von seinem Gesicht, als er den Kahn den Uferdamm hinaufzog. Oben angelangt, mußte er wieder eine Pause machen. Mit einem Schlag fiel ihm ein, daß er keine Ruder besaß. Er tastete in dem Boot herum und rüttelte an den beiden Sitzen, zwei schmale Holzbretter. Erleichtert stellte er fest, daß man sie herausnehmen konnte.
Er zog das Boot den Damm hinunter, und dann war er auf der Eisdecke des Flusses. Der Marsch bis zur Mitte des Stroms war wie ein Alptraum. Das Boot schlitterte hinter ihm her, stieß ihm in die Kniekehlen, daß er hinfiel, dann verfing es sich wieder in Schneewehen, klemmte sich zwischen Eisbrocken fest oder kippte um.
Ein neues Problem tauchte auf. Aus dem Lorenz-Strom quollen jetzt Dämpfe, die sich über dem Fluss zu einem weißen Nebel verdichteten. Nur undeutlich konnte Werra noch die Lichter von Ogdensburg erkennen.
Schritt für Schritt kämpfte er sich über die Eisfläche zur Fahrrinne vor. Sein ganzer Körper war gefühllos geworden, und er konnte an nichts anderes mehr denken als daran, daß er es jetzt schaffen mußte. Wenn es ihm dieses Mal nicht gelang, würde er all die Entbehrungen vergeblich ertragen haben. Die Kälte, der Hunger und das mühsame Sich-Abplagen mit dem Boot hatten alles in ihm absterben lassen. Da war nur noch der eine Wunsch: Freiheit. Da war nur noch ein lockendes Ziel: das andere Ufer des Flusses. Er taumelte halb besinnungslos dahin, und er wußte, wenn jetzt ein kleines Kind mit einem dünnen Stecken über das Eis kam, dann konnte es ihn verhaften, und er würde sich willenlos abführen lassen. Er war wehrlos. Er besaß nur noch so viel Kraft, um das Boot bis zu der offenen Fahrrinne zu schleppen.
Nach unendlich langer Zeit hörte er wieder das Gluckern des offenen Wassers. Er riß die Augen auf und sah die schwarze Fahrrinne vor sich. Mühsam drehte er das Boot herum und stieß es mit dem Heck zuerst ins Wasser. Die Eisdecke brach unter seinen Füßen weg und mit letzter Kraft konnte er sich ins Boot werfen. Es schwankte hin und her, er hörte das Knirschen der Eisschollen, Wasser platschte hoch und überschwemmte ihn. Einen Augenblick lang dachte er, das Boot würde kentern, aber dann war es von der Strömung erfasst worden, die es in die Fahrrinne hinausschob. Er raffte sich auf und kniete im Boot hin. Er nahm einen der Sitze heraus und begann, damit zu paddeln. Die Wellen schwappten gegen die Planken und über seine Hände, die im Nu zu Eis erstarrt waren. Als er aufblickte, sah er, daß das Boot sich drehte. Er versuchte krampfhaft, eine gerade Richtung einzuhalten, aber es gelang ihm nicht. Der Nebel hatte sich wieder etwas gelichtet, und er sah einmal vor sich, dann wieder hinter sich die Lichter am Ufer des Stromes aufblitzen, so, wie das Boot sich im Kreise drehte. Er wußte schon nicht mehr, bedeuten diese Lichter Ogdensburg oder eine andere Stadt, bedeuten sie das amerikanische oder das kanadische Ufer. Auf der Mitte des Stromes warf sich der Wind mit neuer Wucht gegen ihn, zerrte an seinen Haaren, zerschnitt ihm das Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er spürte seine Hände und seine Füße nicht mehr, sein Gesicht war nur noch eine Eismaske.
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte er. »Verdammt noch mal, ich kann nicht mehr.« Er schloß die Augen. Das Brett, mit dem er gepaddelt hatte, hatte er schon lange verloren. Er klemmte die Hände in die Achselhöhlen, aber sie blieben steif und leblos.
Dann, mit einem Mal, hörte er das Knirschen von Eis. Es gab einen Ruck, und er wurde nach hinten geschleudert. Er öffnete die Augen und sah eine feste Eisdecke vor sich, an der das Boot entlangtrieb. Bin ich jetzt auf dem amerikanischen oder kanadischen Ufer? dachte er. Aber das war eigentlich ganz egal. Er wollte nur noch eins, so schnell wie möglich auf festes Land, fort von dem eisigen Wind, der durch das Stromtal fauchte, fort von dem Wasser, das ihm ins Gesicht sprühte. Er richtete sich auf und sprang mit letzter Anstrengung vom Boot auf die Eisdecke. Es knirschte unter seinen Füßen, und er warf sich nach vorn. Hinter ihm brach eine Eisscholle weg. Das Boot war schon in der Dunkelheit verschwunden. Auf allen Vieren kroch er über die Eisdecke auf das Ufer zu. Endlich spürte er vom Schnee bedecktes Gras unter seinen Händen, und er wußte, er hatte das Ufer erreicht. Er dachte an gar nichts. Erschöpft raffte er sich auf und taumelte die Böschung hoch.
Er gelangte zu einem Weg, der nach ein paar Hundert Metern in
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