Einer kam durch
die Häuser der Ortschaft sehen. Er war einige Minuten lang auf der Straße dahinmarschiert, als er hinter sich wieder das vertraute Brummen eines Motors hörte. Nach alter Gewohnheit hob er automatisch seinen Arm mit nach vorne ausgestrecktem Daumen und wandte sich halb um. Was er sah, ließ ihn den Arm schleunigst wieder senken. Der Wagen, der sich ihm in schneller Fahrt näherte, trug in roten Lettern auf der vorderen Stoßstange das Wort ›Police‹. Werra zog den Kopf zwischen die Schultern und marschierte verbissen geradeaus.
Mit knirschenden Bremsen kam der Polizeiwagen neben ihm zum Stehen. »Einsteigen«, sagte eine Stimme.
Weglaufen hatte keinen Zweck. Rechts und links waren deckungslose, freie Plätze, und vor und hinter ihm dehnte sich die schneeglatte Straße. Es war also doch alles vergebens gewesen. Resigniert stieg Werra in den Wagen und ließ sich in die Polster des Hintersitzes fallen. Sein erster Blick fiel auf das Funkgerät. Natürlich wußten die Polizisten längst, daß ein deutscher Kriegsgefangener aus einem Transport entsprungen war. Natürlich lief die Fahndung im ganzen Grenzgebiet. Aus, dachte Werra, und lehnte sich mit einem tiefen Aufseufzen zurück. Der Polizist, der neben dem Fahrer saß, drehte sich um und grinste Werra an. »Du weißt doch ganz genau, du Landstreicher, daß es verboten ist, Autos anzuhalten. Du kannst von Glück sagen, daß du den Arm gleich wieder hast sinken lassen. Ich will zu deinen Gunsten annehmen, daß du nur deinen verlausten Schädel kratzen wolltest?«
Werras Hände waren feucht, und das Herz schlug ihm an der Kehle. Mein Gott, dachte er, soviel Schwein kann doch ein Mensch nicht auf einmal haben.
»Also, weil es so kalt ist, und weil du ja eigentlich den Wagen gar nicht anhalten wolltest« – hier grinste der Polizist wieder –, »wollen wir dich man ein Stückchen mitnehmen. Wo willst du denn hin?«
»Nach Johnstown«, sagte Werra. »Ich will dort jemanden besuchen.« Und wieder legte er die alte Platte mit den Verwandten auf, zu denen er angeblich wollte. Wieder war er der holländische Seemann, dessen Pott im Hafen von Halifax lag.
»Dutch? Na, daß du 'nen Akzent hast, habe ich ja gleich gehört«, knurrte der Polizist. »Wohl ein bißchen ungemütlich auf dem Atlantik zur Zeit, mit all den Nazi-U-Booten, was?« fragte er.
»Kannste wetten«, erwiderte Werra.
»Wie heißen denn deine Verwandten?« fragte der Polizist.
»Williams, George Williams. Mein Onkel. Er handelt mit Vieh.«
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Nie gehört, kenn ich nicht.«
Sie hatten jetzt Johnstown erreicht.
»Wo sollen wir dich denn absetzen?« fragte der Polizist.
»Och, am besten gleich hier«, sagte Werra.
»O.K.«, sagte der Polizist.
Als der Polizeiwagen in einer Seitenstraße verschwand, fuhr sich Werra mit der Hand über die Augen. Mann, Mann, dachte er, habe ich einen Dusel gehabt. Das Genick beim Absprung nicht gebrochen, schneller durch die Wälder gekommen, als ich gedacht habe, fast hundert Kilometer weit per Anhalter gefahren, und jetzt auch noch von der Polizei aufgepickt und wieder abgeladen worden, als hätten sie von einem entsprungenen Kriegsgefangenen in ihrem ganzen Leben noch kein Sterbenswörtchen gehört.
Sein Magen knurrte, denn er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, aber der Gedanke an die nahe Grenze ließ ihn seinen Hunger vergessen. Selbst wenn er wollte, hätte er sich nichts zu essen beschaffen können, denn inzwischen hatte er herausgefunden, daß er sich mit seinen englischen Pfunden in Kanada noch nicht einmal eine Schachtel Streichhölzer kaufen konnte. In eine Wechselstube zu gehen, um kanadische Dollars zu bekommen, war ihm zu riskant, denn möglicherweise hätte man ihn dort nach dem Paß fragen können.
Es wurde jetzt schnell dunkel, und er mußte sich beeilen, wenn er noch in dieser Nacht über die Grenze kommen wollte. Er hatte noch keine Ahnung davon, wie er das schaffen würde, aber wieder baute er optimistisch auf sein Glück. Um nicht noch in letzter Minute von den Kanadiern geschnappt zu werden, machte er, daß er so schnell wie möglich wieder aus Johnstown herauskam. Er ging einen schneeverwehten Weg entlang nach Süden, und in der immer tiefer werdenden Dunkelheit sah er plötzlich vor sich ein breites, flaches Tal und dahinter die glitzernden Lichter einer Stadt.
Er hatte den ganzen Nachmittag über die Karte studiert, und als er die Lichter sah, wußte er mit einem Schlag, daß dies nur
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