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Einer kam durch

Titel: Einer kam durch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: von Werra Franz
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Ogdensburg sein konnte – eine amerikanische Stadt. Einen Augenblick lang blieb er stehen. Das war also der St.-Lorenz-Strom. Er war offenbar zugefroren. Werra stampfte hastig durch den Schnee auf die Uferböschung zu. Als er oben stand, fiel ihm eine große Last von den Schultern. Er hatte es geschafft. Noch zwei oder drei Kilometer, und er war in den Vereinigten Staaten. Der Wind pfiff ihm um den Kopf. Seine Ohren waren gefühllos geworden, und seine Füße schmerzten, aber der Anblick des eis- und schneebedeckten Stromes gab ihm neue Kraft. Vorsichtig, Fuß um Fuß, kletterte er die Uferböschung hinunter und tastete sich in der Dunkelheit, die jetzt wie eine Wand um ihn stand, auf die Eisdecke des Flusses vor.
    Mit zögernden Schritten, aber dann immer sicherer, ging er über die Eisdecke auf die fernen Lichter zu. Hier, im Stromtal, schnitt der Wind mit einer Schärfe in sein Gesicht, die ihm den Atem wegnahm. Auch sein Mantel und sein Schal nützten jetzt nichts mehr. Die Kälte fraß sich schmerzhaft in seine Glieder, und er hätte am liebsten geheult. Aber er biss die Zähne zusammen, denn er wußte, spätestens in ein paar Stunden war alles vorbei.
    Er hatte den Fluss auf seiner Eisfläche bereits zur Hälfte überquert, als er plötzlich vor sich Rauschen und Blubbern hörte. Er hatte die letzten hundert Meter, schräg gegen den eisigen Wind gelehnt, in einer Art Betäubung zurückgelegt. Seine Füße hatten seinen Körper automatisch weitergetragen. Jetzt, mit einem Mal, war er wieder hellwach. Er tastete sich noch einige Schritte weit vor, und dann sah er im unwirklichen Licht der Winternacht eine schwarze Fläche vor sich.
    Verständnislos starrte er auf das Wasser. Er hatte gar nicht daran gedacht, daß in der Mitte des Stromes eine eisfreie, offene Fahrrinne sein könnte. Seine Nerven waren so abgestumpft, und die Kälte hatte ihn so betäubt, daß ihm nur langsam dämmerte, was dies bedeutete.
    Es dauerte eine ganze Weile, ehe er begriff, daß er wirklich nicht mehr weiterkonnte. Dann, als er langsam erkannte, daß sich zwischen ihn und die Freiheit ein neues Hindernis geschoben hatte, dachte er zuerst daran, am Rand der offenen Fahrrinne entlangzulaufen, bis er irgendwo eine ganz zugefrorene Stelle fand. Er ging zögernd ein paar Schritte weit, aber dann wurde ihm klar, daß dies Unsinn war. Links und rechts von ihm dehnte sich die schwarze Wassermasse.
    In seiner ersten, fast hysterischen Reaktion dachte er daran, sich die Kleider vom Leibe zu reißen und über den Fluss zu schwimmen. Er lachte gequält auf. Das wäre eine feine Sache, dann könnten ihn morgen früh die Kanadier oder die Amerikaner als steife Leiche aus dem Wasser fischen. Bei der Temperatur würde er spätestens nach zehn Metern einen Herzschlag bekommen und jämmerlich absaufen. »Verdammt, verdammt …«, fluchte er. Dann stampfte er über die Eisdecke zum kanadischen Ufer zurück.
    Er war vor einer halben Stunde an den Holzhütten eines verlassenen Touristencamps vorbeigekommen. Dabei hatte er ein paar seltsame, flache Erhebungen unter der Schneedecke gesehen, aber nicht darauf geachtet. Mann, das könnten Boote sein, dachte er jetzt. In fieberhafter Eile ging er den Weg zurück, den er gekommen war. Seine Augen hatten sich schon seit langem an die Dunkelheit gewöhnt, und es dauerte nicht lange, bis er die dunklen Schemen der Wochenendhäuschen vor sich auftauchen sah. Vor Aufregung begann er zu laufen.
    Er stieß mit dem Fuß gegen die erste flache Erhebung unter der Schneedecke, die er fand. Es polterte hohl. Es war tatsächlich ein Boot. Er trat den Schnee mit den Absätzen herunter, bis das Boot frei war. Es lag kieloben auf dem Boden. Er versuchte, es zu bewegen, aber es war angefroren. Er trat mit aller Gewalt gegen die Seiten des Bootes, aber es nützte nichts. Er rüttelte mit den Händen am Kiel, aber das Boot bewegte sich nicht. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, er fluchte und schrie vor Verzweiflung und Wut, und er rüttelte wie ein Irrsinniger an dem festgefrorenen Kahn. Endlich gab das Eis das Holz frei, und er konnte das Boot umdrehen. Als es auf dem Kiel stand, setzte er sich eine Minute lang in den Schnee. Aber dann dachte er wieder an das lockende Ufer jenseits des St.-Lorenz-Stromes. Er stand auf, schlang seinen Schal durch den Ring am Steven und begann, mit aller Macht zu ziehen.
    Es ging fast über seine Kräfte. Er taumelte wie ein Betrunkener dahin, das Boot knirschend hinter ihm her. Trotz der Kälte

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