Einer kam durch
jemanden gestoßen wäre, dann hätte er schwerlich eine Erklärung dafür finden können, warum er sich allein um diese Zeit in der Wildnis herumtrieb. Hier, auf der Straße, konnte er jedem die Story auftischen, daß er ein holländischer Seemann sei, der per Anhalter unterwegs war, um Verwandte zu besuchen.
Nach einer Viertelstunde Marsch hörte er wieder das Brummen eines Motors. Er drehte sich um und sah hinter einer Biegung einen großen, roten Lastwagen auftauchen, auf dem an einem Dutzend verschiedener Stellen der sinnige Werbespruch aufgemalt war: ›Drink Coca-Cola ice-cold‹.
Franz von Werra mußte unwillkürlich grinsen. Coca-Cola eiskalt – und das bei einer Temperatur von minus 20 Grad. Der Wagen hielt neben ihm. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und steckte seinen Kopf hinaus.
»Mensch, was machst du denn in dieser gottverlassenen Gegend?« fragte er. Er hatte ein gutmütiges Gesicht und freundliche Augen.
»Ich will Verwandte in Williamstown besuchen«, sagte Werra.
»Williamstown? Nie gehört«, brummte der Fahrer.
»Ist so 'n kleines Nest. Hier unten irgendwo im Süden«, bluffte Werra. »Nehmen Sie mich ein Stück mit?«
»Klar«, sagte der Fahrer. »Steig ein.«
»Wo kommste denn her?« fragte er, als Werra es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte.
»Ich bin Matrose auf einem holländischen Pott, der jetzt in Halifax in Reparatur liegt. Wollte meine Verwandten besuchen und mal sehen, ob ich einen Job an Land bekommen kann.«
»Wohl Manschetten vor den U-Booten?« grinste der Fahrer.
»Kann man wohl sagen«, sagte Werra.
Dem Fahrer schien Werras Erzählung ganz plausibel, denn er fragte nicht weiter. Er bot Werra eine Zigarette an, und sie rauchten schweigend.
Nach einer Weile sagte der Fahrer: »Ich muß jetzt nach links abbiegen. Wenn du weiter geradeaus willst, dann steigst du am besten aus.«
Werra nickte und kletterte aus dem Wagen. Er ging weiter die Straße entlang, die ein weißes, schier endloses Schneeband war, das sich glitzernd im Schein der frühen Morgensonne vor ihm ausdehnte. Nach einer Weile tauchte vor ihm eine Tankstelle auf. Werra verlangsamte seine Schritte. Wenn ich da eine Karte dieser Gegend bekommen könnte, dann wäre mir schon geholfen, dachte er.
Aus einer Garage neben der Tankstelle hörte er metallenes Hämmern und Klopfen, als er näher kam. Er blickte durch die Glasscheibe in das Innere des Kassenraumes der Tankstelle, konnte aber niemanden sehen. Die Tür war abgeschlossen. Er ging weiter zu der Garage, aus der das eifrige Pochen erklang. Als seine Augen sich an das Halbdunkel des nach Öl und Benzin riechenden Raumes gewöhnt hatten, sah er unter einem Lastwagen einen Mann im dunklen Overall liegen, der dem Chassis mit Hammer und Schraubenschlüssel zu Leibe ging.
»Good morning«, sagte Werra. Der Mann in dem Overall wandte ihm sein ölverschmiertes Gesicht zu: »Morning«, knurrte er.
»Wie komme ich nach Williamstown?« fragte Werra.
Der Mann in dem Overall kroch unter dem Wagen hervor. »Williamstown? Nie gehört.«
»Haben Sie eine Karte?« fragte Werra.
»Ja, im Kassenraum. Müssen sich aber selbst raussuchen, wo das Nest liegt, ich habe keine Zeit.«
Er ging mit nach draußen und blickte sich um. »Wo haben Sie denn Ihren Wagen?« fragte er verblüfft.
»Ich bin zu Fuß«, sagte Werra. Der Mann blickte ihn eine Sekunde lang mißtrauisch an. »Zu Fuß?« fragte er.
»Ich bin holländischer Seemann und will Verwandte in Williamstown besuchen«, schnurrte Werra sein Sprüchlein herunter. »Ich bin bis hier von einem Wagen mitgenommen worden.«
Der Tankwart knurrte etwas, was Werra nicht verstand, dann schloß er die Tür zum Kassenraum auf und fischte aus einem Stoß Papiere eine Straßenkarte heraus. »Nimm sie mit«, sagte er.
Als Werra fünfzig Meter weit weg war, hätte er vor Freude am liebsten gesungen. Endlich hatte er eine Karte. Bisher hatte er geradezu unverschämtes Glück gehabt. An diesem Tag schienen sich überhaupt alle guten Geister verbündet zu haben, um Werra bei seiner Flucht zu helfen. Nacheinander gelang es ihm, von vier Wagen mitgenommen zu werden, die alle nach Süden fuhren, auf die ersehnte Grenze zu. Er erzählte jetzt den Fahrern, daß er nach Johnstown wolle, einem kleinen Ort am St.-Lorenz-Strom, den er auf der Karte ausgemacht hatte.
Es war am späten Nachmittag, als er kurz vor Johnstown von einem freundlichen Lastwagenfahrer abgesetzt wurde. Hinter einer sanften Bodenwelle konnte er
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