Einer kam durch
eine lichtüberflutete Straße einmündete. Er setzte sich einen Augenblick lang in den Schnee, weil er zu erschöpft war, um weiterzugehen. Wenn ich nur eine Zigarette hätte, dachte er. Seine Arme hingen schlaff herab, und sein Oberkörper schwankte hin und her. Als sein Herz wieder ruhiger schlug, stand er auf und ging auf die Straße zu. Autos surrten mit blendenden Scheinwerfern an ihm vorbei und verschwanden wieder in der Dunkelheit. Er kam an den ersten Häusern vorbei, aber er ging weiter, ohne stehenzubleiben. Er konnte nirgendwo ein Schild mit einer Ortsbezeichnung sehen.
War er wieder in Kanada gelandet oder hatte er endlich die USA erreicht? Er wußte es nicht.
An einer Kreuzung hielt ein Wagen mit laufendem Motor. Daneben stand auf dem Gehsteig eine gutaussehende Frau in einem Pelzmantel. Sie griff gerade nach der Wagentür, als Werra bei ihr anlangte.
Sie blickte hoch, als sie merkte, daß jemand neben ihr stand, und schaute Werra mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Bitte, wo bin ich hier?« fragte er.
Die Frau blickte ihn von oben bis unten an und begann zu lachen.
»Was meinen Sie?« fragte sie.
»Ich meine, in welchem Land bin ich?«
Die Frau hob ihre Hand, als wolle sie an ihre Stirn tippen, aber dann ließ sie sie wieder sinken. »Sie sind in Gottes eigenem Land«, sagte sie.
Werra trat ganz dicht an sie heran. »In den USA?«
»Natürlich«, sagte sie und lachte wieder.
»Ich bin ein entflohener deutscher Kriegsgefangener«, sagte er ganz leise.
Die Augen der Frau weiteten sich vor Überraschung. »Wo kommen Sie her?«
»Aus Kanada.«
Die Frau im Pelzmantel hob ihre Hand und wies mit dem Kopf auf den Wagen hin. »Vorsicht«, sagte sie leise. »Der Mann da drin ist Kanadier. Wir nehmen Sie ins Stadtzentrum mit, wo Sie zu unserer Polizei gehen können. Aber passen Sie auf, daß Sie keinem kanadischen Grenzbeamten in die Finger fallen, die hier in Ogdensburg zu Dutzenden herumlaufen. Wenn die Sie schnappen, werden Sie sang- und klanglos wieder über die Grenze gebracht, ehe es unsere Polizei überhaupt merkt.«
»Was ist denn los?« fragte der Fahrer des Wagens, der die Scheibe heruntergekurbelt hatte und jetzt seinen Kopf heraussteckte.
»Können wir diesen Mann mitnehmen?« fragte die Frau. »Er friert.«
»Meinetwegen«, sagte der Fahrer. »Steigen Sie ein, Mann.«
»Sprechen Sie kein Wort«, flüsterte die Frau Werra zu, ehe er einstieg. Werra sank in die Polster des Sitzes, und im gleichen Augenblick fielen ihm die Augen zu. Er war eine halbe Nacht und einen ganzen Tag und wieder eine halbe Nacht unterwegs gewesen, und die Müdigkeit überwältigte ihn jetzt. Nur unter Aufbietung seiner letzten Kräfte gelang es ihm, die Augen wieder aufzureißen. Er durfte jetzt nicht einschlafen, vor allem nicht in einem kanadischen Auto, selbst wenn er schon in den USA war. In seinem Kopf drehte sich alles, sein Gesicht schmerzte, und seine Nase tropfte. Mit schwachen Händen wischte er von seinen Wangen die Tränen, die ihm in die Augen gestiegen waren.
»Wo kommen Sie denn her?« fragte der Fahrer plötzlich.
Werra hustete. Ich muß raus aus dem Wagen, dachte er, ehe es zu spät ist.
»Bitte, halten Sie hier«, sagte er.
»O.K.«, sagte der Fahrer.
Werra stieg aus. Die Amerikanerin drehte sich nach ihm um. »Viel Glück«, sagte sie leise. »Danke«, sagte er und blickte dem davonfahrenden Wagen nach.
Er stand an einer hellerleuchteten Kreuzung im Stadtzentrum. Er blickte sich suchend um und ging unschlüssig ein paar Schritte hin und her. Plötzlich stand jemand neben ihm.
»Na, bum, wo soll's denn hingehen?« fragte eine Stimme. Werra drehte sich um. Vor ihm stand ein Polizist in einer dunkelblauen Uniform, der eine verbeulte Schirmmütze trug und lässig mit seinem Schlagstock spielte. Die Mütze trug ein Blechwappen mit einem großen amerikanischen Adler.
»Sind Sie ein amerikanischer Polizist?« fragte Werra.
Der Cop blickte ihn eine Sekunde lang mit zusammengekniffenen Augen an, dann begann er schallend zu lachen. »Das ist der beste Witz, den ich seit langem gehört habe.« Dann trat er näher heran und schnupperte. »Gesoffen?« fragte er.
»Ich ergebe mich«, murmelte Werra ganz friedlich. »Bitte, bringen Sie mich zur Wache.«
Mist riecht niemand gern
Eine Stunde nach Mitternacht läutete in der Wohnung des deutschen Generalkonsuls Borchers in der Battery 17 in New York das Telefon. Der Konsul hatte sich gerade ins Bett gelegt. Schlaftrunken griff er nach dem
Weitere Kostenlose Bücher