Einer kam durch
Tage in New York eröffneten für Werra eine neue Welt. Diese Riesenmetropole war so ganz anders als die verdunkelten Großstädte Europas – strahlend, voller Leben, erfüllt von gutgekleideten Menschen, lackglänzenden Automobilen, Schaufenstern prallvoll mit Waren, leuchtenden Neonreklamen. Es gab hier keine Lebensmittelkarten, keine Spinnstoffsammlungen, keinen Kohlenklau und keine Winterhilfe. Es gab Einladungen, Parties, Verabredungen, Verehrerinnen. Eine von diesen sammelte in einem ledergebundenen Album sämtliche Presseberichte über Werra und machte sie ihm schließlich zum Geschenk. Überall, wohin er kam, wurde er mit offenen Armen aufgenommen. Er war für ein paar Wochen der ›Prince Charming‹ von New York.
Doch so sehr Werra das Leben in New York anfangs genoß, mit der Zeit meldete sich in ihm wieder der rastlose Abenteurer. Er wollte weg. Gerüchte erreichten ihn: Die kanadische Regierung verlangte angeblich seine Auslieferung als Dieb, weil er zur Flucht über den Lorenzstrom ein Boot gestohlen hatte. Man wollte auf diese Weise die völkerrechtswidrige Auslieferung eines Kriegsgefangenen aus einem neutralen Land umgehen.
Generalkonsul Borchers bot den Kanadiern an, ihnen einen Scheck über 35 Dollar – soviel hatte das Boot gekostet – zustellen zu lassen. Die Kanadier lehnten ab. Sie wollten Werra und nicht den Scheck.
***
Am 1. Februar verhandelte ein Bundesgericht in Albany, der Hauptstadt des Staates New York, gegen den illegalen Einwanderer Franz von Werra. Das Gericht kam zu keinem endgültigen Spruch. Die Verhandlung wurde vertagt, die Kaution von 5.000 auf 15.000 Dollar erhöht. Generalkonsul Borchers zahlte, ohne mit der Wimper zu zucken.
Hinter den Kulissen entbrannte ein grimmiger Kampf um Werra. Während die amerikanische Öffentlichkeit im Grunde recht guten Gefallen an dem Ausreißer und seinen Abenteuern fand, überlegte man sich im amerikanischen Justizministerium, wie man den unbequemen Gast wieder nach Kanada abschieben könne.
Andererseits bedachte man die Möglichkeit, ob man ihn internieren könnte. Einige eifrige Beamte hatten einen steinalten Präzedenzfall aus dem Jahre 1870 ausgegraben. Damals – im Deutsch-Französischen Krieg – war ein französischer Offizier auf belgisches Gebiet übergetreten. Er kam aus dem von den Deutschen besetzten Gebiet. Die Belgier lehnten eine Auslieferung an die Deutschen ab, ließen ihn aber auch nicht in das unbesetzte Frankreich reisen, vielmehr internierten sie ihn auf Kriegsdauer. Man erwog, mit Werra das gleiche zu machen. Wochen vergingen, ohne daß sich etwas an seiner Situation änderte. Er war auf freiem Fuß, aber doch nicht frei. Der deutsche Militärattache in Washington schlug ihm vor, als Mitarbeiter in seinen Stab einzutreten. Auf diese Weise hätte Werra diplomatische Immunität erlangt, und eine Auslieferung an Kanada wäre damit unmöglich geworden.
Werra lehnte ab. »Ich bin Flieger, kein Büromensch«, sagte er. Aus Briefen, die er aus Deutschland erhielt, wußte Werra, daß sich dort ein ähnliches Tauziehen um ihn abspielte wie in den USA. Das OKW wollte von einer heimlichen Flucht Werras nichts wissen – der einzigen Möglichkeit, unter den gegebenen Umständen aus den USA zu verschwinden. Man wollte nicht die diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten noch mehr belasten. Das Reichsluftfahrtministerium hingegen wünschte Werras schnellste Heimkehr, weil es seine Erfahrungen mit der britischen Abwehr auswerten wollte.
Öffentlichkeit und Presse in den USA beobachteten voll Spannung das Spiel um den deutschen Flieger. Was sich hinter der ganzen Auseinandersetzung verbarg, lief auf eine grundsätzliche Entscheidung hinaus. Sollten die USA zu einem Asyl für flüchtige deutsche Kriegsgefangene werden? Die Briten schafften immer mehr deutsche Gefangene nach Kanada. Es war zu erwarten, daß weitere Ausbrecher die US-Grenze überschreiten und sich der amerikanischen Polizei stellen würden.
Die Entscheidung fiel schon bald.
In der Nacht zum 22. März 1941 versuchten zwei entflohene deutsche Kriegsgefangene den St.-Lorenz-Strom an einer Stelle zu überschreiten, die völlig zugefroren war. Sie wurden von einer kanadischen Grenzpatrouille verfolgt. Völlig erschöpft erreichten die beiden Deutschen, die Marineoffiziere Bernhardt Gohlke und Heinz Rottmann, das amerikanische Ufer des Flusses, wo sie von einer Polizeistreife festgenommen wurden. Die Deutschen wurden den Einwanderungsbehörden in
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