Einer kam durch
Dringend, wenn ich bitten darf. Danke!« Er legte den Hörer in die Gabel.
»So, und nun der Reihe nach. Wann war Ihr Start gestern?«
»18.00 Uhr. Wir setzten Kurs ab …«
»– Landung?«
»4.00 Uhr heute früh. Kann ein bißchen früher oder später gewesen sein. Eher etwas früher!«
»I see!« Oberleutnant Plant malte ein paar Kringel und rechnete schnell. Zehn Stunden Flugzeit, und wahrscheinlich hatte er den ganzen Sprit verbraucht, ehe er die Kiste auf den Bauch warf, um die Brandgefahr zu verringern. Eine ›Wellington‹ hatte zehn Stunden Flugzeit. Alles, was der Junge sagte, schien hieb- und stichfest zu sein.
»Ihr Ziel? Sie sagten Eisenbahnknotenpunkt Aalborg in Dänemark?«
»Nein, ich sagte Esbjerg … Westküste!« (Das stimmte wieder!)
»Nun, ob Aalborg oder Esbjerg«, meinte der Offizier vom Dienst und sah Werra jetzt scharf von unten her an, »jedenfalls höre ich durch Sie zum ersten Male von einem Angriff der RAF auf dänisches Gebiet.«
Werra hielt dem Blick stand und lächelte. »Früher war es wohl auch kaum möglich. Gestern war unser erster Einsatz. Wir sind ›Special Command‹. Wir fliegen Sonderaufträge …« Plötzlich wurde ihm klar, daß dieses Gespräch auf ein regelrechtes Verhör hinauslaufen würde. Der Ton paßte ihm nicht. Wie sprach der Kerl denn mit ihm! Seiner Uniform nach mußte er Oberleutnant sein. Der Fahrer hatte zwar etwas von ›Commander Boniface‹ gesagt, aber wahrscheinlich war ›Commander‹ kein Dienstrang, sondern eine Dienststellung, denn Werra kannte nur den RAF-Dienstgrad ›Wing-Commander‹, der dem deutschen Oberstleutnant entsprach. Jedenfalls brauchte er sich als Hauptmann dieses Verhör nicht bieten zu lassen, auch wenn er ein holländischer Hauptmann war und dieser Oberleutnant ein Engländer.
Unglückseliger Werra! In diesem Augenblick stand niemand hinter ihm, der ihn hätte warnen können. Kein Major Fanelsa, der ihm geraten hatte, seinen natürlichen Charme zu gebrauchen und den preußischen Offizier zu Hause zu lassen.
»Wir fliegen Sondereinsätze …« wiederholte er, und seine Stimme klang mit einem Male aggressiv, »und es ist ja wohl nicht üblich, daß solche Sonderunternehmungen jedem neugierigen Oberleutnant in die Ohren gepustet werden, was?«
»Wie meinen Sie das?« Der Engländer war hinter seinem Schreibtisch aufgestanden.
»Ich meine, daß ich mir diesen Ton verbitte! Wenn Sie glauben, daß ich als holländischer Captain jede Nacht meinen Arsch in die Luft hänge, um dann von Ihnen …«
Er brach mitten im Satz ab, denn aus einem Kasten an der Wand kam unvermittelt ein lautes Krachen, verdichtete sich zu einem heulenden Pfeifton wie von einer überdrehten Rückkopplung, um ebenso plötzlich wieder auszusetzen. Und dann ließ sich aus dem Lautsprecher eine Stimme hören:
»Attention, Attention – hier ist der Kontrollturm. Bristol-Blenheim RBM 348, ich wiederhole: Rager -Baker – Mike – drei – vier – acht, auf Einflugschneise 5, ich wiederhole: Einflugschneise fünnef, voraussichtliche Landezeit acht Uhr fünfunddreißig. Ende.«
Werra starrte auf den Kasten an der Wand. Als er den Kopf umwandte, merkte er, wie der Engländer ihn anstarrte. Die Uhr hinter dem Schreibtisch tickte auf 8.27 Uhr.
»Haben Sie ›Blenheims‹ in Ihrem Geschwader?« fragte der Engländer.
»Ja«, sagte Werra.
»Dann wird das Ihre Maschine sein.«
»Möglich«, sagte Werra.
Der Engländer setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
Er war bestürzt. Der Mann war also echt. Und er war zu weit gegangen. Werra zog den Stuhl vom Ofen weg und setzte sich ebenfalls.
Er war nicht weniger bestürzt. Mochte der Himmel wissen, was das für eine Maschine war. Mit ihm hatte sie jedenfalls nichts zu tun. Und wenn die Besatzung hier hereinkam, dann würde seine Geschichte platzen. Noch acht Minuten!
»Entschuldigen Sie«, nahm Werra das Gespräch wieder auf, »ich war ein wenig ungeduldig. Die letzte Nacht … na, Sie verstehen schon. Natürlich weiß ich, daß Sie Ihre Vorschriften beachten müssen. Also bitte, fragen Sie weiter.«
Der Engländer schien keine große Lust mehr zu haben. Zu seinem Erstaunen fing der holländische Captain jetzt ganz von selbst an, seine Geschichte noch einmal zu erzählen. Ganz chronologisch, alles der Reihe nach, eins nach dem anderen.
Oberleutnant Thomas Ivanhoe Plant achtete nicht auf die Einzelheiten, die er bereits kannte. Aber der Erzähler selbst war ihm noch ein Rätsel. Seine
Weitere Kostenlose Bücher