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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Beide wussten, wovor sie Angst hatten. Die gleichen Erinnerungen jagten durch ihr Bewusstsein.
    Orme zündete ein Streichholz an. In der stehenden Luft war es nicht nötig, es mit der Hand zu schützen. Sobald die Laterne brannte, trug er sie vorsichtig mit einer Hand vor sich her, während er über die Holztreppe in den Bauch des Bootes hinunterstieg.
    Monk folgte ihm. Auf diesen Stufen lief es sich überraschend leicht. Und spätestens als seine Hand das Geländer entdeckte, stand für ihn fest, dass das Boot für Passagiere, nicht für Frachtgüter gebaut worden war. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, überfiel ihn wie eine dunkle Vorahnung. In der Luft hing ein beunruhigend bekannter Geruch: Er enthielt die reiche Note von Zigarrenrauch und die überreife Süße von gutem Alkohol, war aber zugleich durchsetzt mit den abgestandenen Ausdünstungen menschlicher Körper.
    Orme hielt die Laterne hoch und richtete ihren Schein auf die glatten, dezent gestrichenen Wände einer großen Kabine, die in ihrer Eleganz wirkte wie ein Gesellschaftszimmer. Am anderen Ende standen Vitrinen, gegenüber eine Bank aus poliertem Mahagoni, an den Rändern beschlagen mit einer schimmernden Messingleiste.
    Der Anblick rief bei Monk die Erinnerung an Jericho Phillips’ Boot in aller Eindringlichkeit wach. Im ersten Schock begann er zu würgen, und er befürchtete schon, sich übergeben zu müssen. Er stakste über den mit Teppichen belegten Boden zur hinteren Tür und riss sie mit solcher Wucht auf, dass sie gegen die Wand knallte, zurückprallte und ihn traf.
    Orme folgte ihm mit dem Licht. Monk konnte hören, dass er die Luft in einem tiefen Seufzer entweichen ließ. Diese Kabine war der ersten ähnlich, nur größer, und am hinteren Ende befand sich eine improvisierte Bühne.
    »O Gott!«, stöhnte Orme, nur um sich sogleich zu entschuldigen. Das Grauen in seiner Stimme hatte seinem Ausruf jedoch alles Blasphemische genommen und machte ihn eher zu einem Hilfeschrei, als könne Gott das ändern, was Orme als bittere Wahrheit erkannt hatte.
    Monk benötigte keine Erklärung; seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich wieder einmal bewahrheitet. Dieses Boot war von derselben Art wie das von Jericho Phillips, wo mit Kindern pornografische Darbietungen zur Unterhaltung derer veranstaltet wurden, die eine perverse Sucht nicht nur nach derlei Dingen hatten, sondern auch nach den Gefahren, denen sie sich damit aussetzten. Wären die Opfer Mädchen, wäre das lediglich obszön, und es bestünde keine Notwendigkeit, das Spektakel auf dem Fluss, meilenweit von den feinen Londoner Adressen entfernt, zu verbergen. In der Regel aber waren es Jungen, teilweise erst fünf oder sechs Jahre alt, und natürlich war Homosexualität vor dem Gesetz ein Verbrechen. Man hatte drakonische Gefängnisstrafen zu befürchten. Selbst der Verlust von Vermögen und gutem Ruf war noch harmlos im Vergleich zu Monaten oder Jahren in Zuchthäusern wie dem Coldbath Fields. Danach war man nicht mehr derselbe.
    Zu Pornografie, wenn nicht sogar Prostitution, hatte Phillips auch Scuff zwingen wollen, und fast hätten Hester und Monk den Jungen für immer verloren. Denn auch wenn sie ihn doch noch gefunden hätten – was an seinem Herzen und seiner Seele wäre unversehrt geblieben, ganz zu schweigen von seinem Körper?
    Waren auch hier irgendwo Jungen versteckt, eingesperrt hinter anderen Türen und zu verängstigt, um einen Laut von sich zu geben?
    Orme wollte vortreten, doch Monk legte ihm eine Hand auf den Arm. »Hören Sie«, befahl er. Orme keuchte und zitterte leicht. Trotz all seiner Jahre am Fluss gab es immer noch Momente, in denen der Anblick von Leid seine Selbstbeherrschung erschütterte.
    Beide Männer verharrten und lauschten angestrengt. Nicht eine einzige Diele knarzte. Die Gezeiten hatten gewechselt, und die Flut kehrte zurück.
    »Sie müssen hier sein.« Monk hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Die Kerle können sie nicht jedes Mal für die Vorführung hier rausfahren. Zu viele Boote – irgendwann würde man sie sehen. Und zu viele Fluchtgelegenheiten. Sie müssen hier irgendwo stecken.« Er brachte es nicht über sich, den Gedanken zu äußern, dass alle tot sein mochten. Dabei war ihm klar, wie dumm sein Schweigen war. Schließlich ließ sich die Realität im Nachhinein nicht mehr ändern. Aber dennoch nahm er die Worte nicht in den Mund.
    »Eine Meuterei?«, spekulierte Orme, von Hoffnung beseelt. »Vielleicht haben sie ihn umgebracht.

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