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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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nicht da?«
    Tosh nickte. »Sie ham’s erfasst. Man muss natürlich auch berücksichtigen, dass ’Orrie es nich’ immer so genau mit der Zeit nimmt.«
    »Ist ’Orrie eigentlich die Kurzform von Horace oder ’Orace, wie man das in London ausspricht?«
    Tosh grinste ihn halb verstohlen an. »Horrible. Oder ’Orrible, wie wir Londoner sagen. Wenn Sie erst mal ’nen Blick auf ihn geworfen haben, werden Sie verstehen, warum. Er sieht wirklich schrecklich aus. Und dann isser auch nich’ ganz …« Er tippte sich an die Stirn und überließ den Rest Monks Fantasie.
    Der verkümmerte Arm des Toten fiel Monk wieder ein. »Ich nehme an, dass Mr Parfitt nicht in der Lage war, selbst zu rudern? War das auch sonst immer Mr Jones’ Aufgabe?«
    »Ja. Gehorchen kann er ganz gut, aber ansonsten is’ er zu kaum was zu gebrauchen.«
    »Ich verstehe. Und wissen Sie aus eigener Erfahrung, dass er immer die Wahrheit sagt, oder glauben Sie ihm einfach?«
    Tosh riss in gespielter Überraschung die Augen auf, sodass sich tiefe Furchen auf seiner Stirn bildeten. »Ich glaub ihm, weil das vernünftig is’ und weil er gar nich’ genug Verstand hat, um zu lügen. Das is’ einer der Vorteile, wenn man Idioten für sich arbeiten lässt: Sie sind nich’ einfallsreich genug, um einem ’ne ordentliche Lüge aufzutischen. Und sie haben nich’ den Verstand, sich daran zu erinnern, wenn sie’s doch getan haben.«
    Monk verzichtete auf einen Kommentar. »Als er also heute Morgen gegen sechs nach Ihnen gerufen hat«, fasste Monk zusammen, »haben Sie ihn aufgefordert, sich wieder hinzulegen. Aber ’Orrie hörte nicht auf Sie, sondern setzte seine Suche nach Mr Parfitt am Flussufer entlang fort?«
    »Ja, das stimmt«, bestätigte Tosh.
    »Bemerkenswert, dass er ihn in so kurzer Zeit tatsächlich entdeckt hat, finden Sie nicht auch?«, meinte Monk. »Das ist ja ein großer Fluss – Schilf und Hindernisse in rauen Mengen, wegen der Gezeiten ständig wechselnde Fließrichtung und dazu der Verkehr.«
    Tosh blinzelte. »So hab ich mir das noch gar nich’ überlegt, aber Sie haben natürlich recht. Das is’ in der Tat bemerkenswert, Sir.«
    »Ich denke, jetzt müsste gerade der richtige Augenblick sein, Mr ’Orrible Jones kennenzulernen«, regte Monk an.
    »Oh, unbedingt, Sir.« Tosh blinzelte und entblößte mit einem Lächeln sehr weiße und merkwürdig spitze Zähne.
    Sie entdeckten ’Orrie Jones beim Zusammenkehren der Sägespäne in einer Gaststätte an der Ecke einer der vielen engen Gassen, die zum Flussufer führten. Coburn zeigte ihn Monk beim Eintreten, auch wenn das überhaupt nicht nötig gewesen wäre. ’Orrie war ein vierschrötiger Bursche von weit unterdurchschnittlicher Größe. Und er war überaus hässlich. Sein braunes Haar stand in alle Richtungen vom Kopf ab wie bei einem Igel die Stacheln. Seine Nase war breit und flach, aber es waren die Augen, die das abstoßendste Merkmal darstellten.
    Coburn blieb direkt vor ihm stehen. »Morgen, ’Orrie«, begrüßte er ihn freundlich.
    ’Orrie klammerte sich mit weiß angelaufenen Knöcheln an den Besenstiel. Eines seiner dunklen Augen war bedrohlich auf den Constable geheftet, das andere blickte in Richtung der weiter entfernten Ecke. Monk hatte keine Ahnung, ob ’Orrie ihn sehen konnte oder nicht.
    »Haste rausgefunden, wer Mickey das angetan hat?«, knurrte ’Orrie.
    »Was angetan?«, fragte Monk, dem es darum ging, in Erfahrung zu bringen, ob ’Orrie von der Strangulation wusste, bevor Coburn sie erwähnte.
    »Ihn ins Wasser gestoßen.« Orrie verlagerte den Blick, oder zumindest die Hälfte davon.
    »Konnte er schwimmen?«, fragte Monk.
    »Nich’, wenn ihm der Kopf eingeschlagen worden is’«, erklärte ’Orrie mit derart leerem Gesicht, dass für Monk nicht erkennbar war, ob er Zorn, Mitleid oder schlichtweg Gleichgültigkeit empfand. Das schuf für ihn einen unerwarteten Nachteil.
    »Es überrascht Sie nicht, dass er tot ist?«, wollte Monk wissen.
    ’Orries Blick wanderte durch den Raum. Was er tatsächlich sah, ließ sich nicht beurteilen. »Überrascht mich nich’, wenn irgendwer tot is’.«
    Monk merkte, dass ihn die Art des Mannes reizte. An und für sich war seine Antwort vollkommen vernünftig, und doch wich er der Frage aus. War das Absicht?
    »Wie lange haben Sie ihn gestern Nacht gesucht, als Sie zum Boot zurückkehrten und erkannten, dass er verschwunden war?«, drängte er.
    »Bis ich ihn nich’ finden konnte«, erklärte ’Orrie geduldig.

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