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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Wasser. Die Frühabendsonne stand tief am westlichen Horizont und füllte den Himmel bereits mit Farben. Es war noch nicht ein Jahr her, dass Monk seine neue Stelle angetreten hatte, doch selbst in dieser kurzen Zeit hatten seine Arme und sein Oberkörper enorm an Kraft zugelegt. Er spürte kaum den Zug der Ruder, und weil Orme und er es gewöhnt waren, miteinander zu arbeiten, verfielen sie ohne ein Wort in ihren Schlagtakt.
    Monk wusste, dass Parfitt ermordet worden war, höchstwahrscheinlich auf diesem Boot, das regungslos vor ihnen auf dem stillen Fluss dümpelte. Trotzdem strahlten die Bewegungen der Rudernden, das Knarzen der Dollen, das Wispern des vorbeiströmenden Wassers, das gedämpfte Platschen der von den Rudern herabperlenden Tropfen eine Art zeitlose Ruhe aus, die seine inneren Knoten löste, sodass er unwillkürlich lächelte.
    Dann legten sie längs des Bootes an. Nachdem sie die Ruder an Bord gezogen hatten, erhob sich Orme und ergriff die Strickleiter, die von der überraschend hohen Bootswand herabhing. Das Boot war über fünfzehn Meter lang und maß an der breitesten Stelle gut sechs Meter. Der Höhe nach zu urteilen, musste es zwei Decks über der Wasseroberfläche haben und eines darunter, die Kielräume nicht mitgerechnet. Wofür mochte Parfitt so weit außerhalb des Hafens ein Boot von dieser Größe benutzt haben? Für Fracht ganz gewiss nicht. Segelmasten gab es nicht, und am Ufer fehlten die Treidelpfade.
    Die beiden Männer standen an Deck.
    Monk blickte Orme an.
    Dieser hatte den Kopf abgewandt, doch Monk sah die scharfen Kanten seines Kiefers, die angespannten Muskeln, die gestrafften Schultern.
    »Wir sollten besser nach unten gehen«, schlug Monk leise vor. Sie hatten Stemmeisen mitgebracht, falls es nötig sein sollte, die Luken aufzubrechen.
    Was mochte auf diesem Boot geschehen sein?, sinnierte Monk. Hatte sich jemand in der Dunkelheit an Bord geschlichen? War er wie sie herangerudert, lautlos an Bord geklettert, unbemerkt über die Holzplanken gehuscht und dann plötzlich über den ahnungslosen Mickey Parfitt hergefallen? Oder war es jemand, den er erwartet hatte, in der Annahme, es sei ein Freund, nur um plötzlich zu erkennen, dass er sich grausam getäuscht hatte?
    Orme beugte sich stirnrunzelnd über die Luke. »Wir werden sie aufstemmen müssen. Er muss an Deck ermordet worden sein.«
    »Wenn er überhaupt so weit gekommen ist«, brummte Monk.
    Orme blickte zu ihm auf. »Sie meinen, der Mord hatte womöglich gar nichts mit dem Boot hier zu tun? Aber wieso hätte uns ’Orrie dann so ausführlich erzählt, dass er ihn hierhergerudert hat? Wenn er überhaupt genug Mumm gehabt hätte, uns eine Lüge aufzutischen, dann hätte er doch bestimmt behauptet, dass er von nichts eine Ahnung hat.«
    Monk packte eines der Stemmeisen und schob es unter das Schloss der Luke. »Vielleicht wussten ja andere darüber Bescheid, dass er Parfitt rausruderte. Er könnte am Steg gesehen worden sein.«
    »Um elf in der Nacht?«, fragte Orme skeptisch. Er begann, das Brecheisen nach unten zu drücken, doch der schwere Metallbügel gab nicht nach.
    Nun stemmte sich auch Monk mit aller Kraft auf sein Eisen. Auch hierbei erübrigten sich Worte. Sie waren perfekt aufeinander eingespielt.
    Beim vierten Versuch splitterte das Holz, beim fünften gab es nach, und das Schloss wurde mitsamt den Schrauben herausgerissen.
    »Was, zum Teufel, bewahrt er hier auf, das so wertvoll ist?«, flüsterte Orme verblüfft. »Schmuggelware? Brandy? Tabak? Muss ja eine gewaltige Menge sein. Es sei denn, der Mörder hat alles mitgenommen.«
    Monk gab keine Antwort. Er hoffte inständig, dass es sich tatsächlich so verhielt. »Ich denke, dass ’Orrie vor Tosh Angst hat, Sie auch?«
    Orme streckte den Rücken durch und zog die Luke hoch. »Sie meinen, Tosh hat ihm eingetrichtert, was er sagen soll? Das würde aber bedeuten, dass Tosh eine ziemlich genaue Vorstellung davon hat, was in Wahrheit geschehen ist.«
    Der Himmel wurde allmählich dunkel, das letzte Licht verblasste. Bis auf das gedämpfte Plätschern des Wassers um sie herum war kein Laut zu hören.
    »Oder aber, er beschützt etwas anderes«, gab Monk zu bedenken. Er beugte sich über die schwarze rechteckige Luke, deren neues Holz nur an den Stellen helle Flecken aufwies, wo die Schrauben herausgesprengt worden waren. »Lassen Sie uns runtergehen, solange wir noch was sehen können. Unten werden wir sowieso eine Laterne brauchen.«
    Sie sahen einander nicht an.

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