Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
über sich gebracht hatte.
    Draußen flatterte ein Schwarm Stare in den Abendhimmel, an dem Wolken von Süden her näher trieben.
    Um Margarets willen musste er so tun, als wäre alles in Ordnung. Das würde ihm schwerfallen. Familientreffen lagen ihm ohnehin nicht. Seinem eigenen Vater stand er sehr nahe, und ihre gemeinsamen Mahlzeiten boten ihm die ruhige Behaglichkeit alter Freunde, Gespräche über Kunst, Recht oder Literatur und sanfte Belustigung über alles mögliche Skurrile im Leben und in der menschlichen Natur. Es gab kameradschaftliche Schweigepausen bei Brot mit Käse, guter Pastete und äußerst maßvoll genossenem Rotwein. Manchmal aßen sie am Abend vor dem Kaminfeuer Apple Pie mit Sahne und erzählten sich den einen oder anderen Witz.
    Die Tür ging auf, und Margaret trat ein. Als sie Rathbone vor dem Fenster stehen sah, entschuldigte sie sich sogleich in der Annahme, dass sie ihn hatte warten lassen. Sie sah bezaubernd aus mit ihrer in kräftigem, doch dezentem Grün gehaltenen Bluse und dem mächtigen Reifrock, dessen Saum ein goldenes Mäander-Muster zierte.
    »Ich war zu früh unten«, antwortete Rathbone, der es wider Erwarten leicht fand, zu lächeln. »Aber ich hätte auch gern gewartet. Du bist wunderschön. Ist deine Bluse neu? Die kann ich doch unmöglich vergessen haben.«
    Alle Verkrampfung fiel von ihr ab, und sie strahlte wieder die Anmut aus, die er schon bei ihrer ersten Begegnung an ihr bemerkt und die ihn zusammen mit ihrem Sinn für Humor fasziniert hatte. Aus ihr sprach eine angeborene Würde, die vielleicht ihre wunderbarste Gabe war.
    Er spürte, wie sich seine Besorgnis auflöste. Sie würden den Abend überstehen, egal, welche Herausforderungen er ihnen bescheren mochte. Schließlich gingen sie zu einem Familientreffen; da sollte man doch wirklich die Vergangenheit mitsamt ihren unbewiesenen Beschuldigungen hinter sich lassen können. Allein schon solche Gedanken zu hegen war ungerecht.
    »Komm.« Er reichte ihr seinen Arm. »Die Kutsche wird jeden Moment vor der Tür stehen. Er lächelte sie an und sah ihre Augen aufflammen.
    Sie trafen unmittelbar nach Margarets älterer Schwester Gwen und deren Mann Wilbert ein und folgten ihnen in das lange, mit Eichenholz getäfelte Empfangszimmer. Wilbert war mager, blond und ziemlich ernst. Welchen Beruf er ausübte, war Rathbone nicht ganz klar; fest stand nur, dass er Geld geerbt hatte und sich für Politik interessierte. Gwen war nur ein oder zwei Jahre älter als Margaret und ihr äußerlich nicht unähnlich. Sie hatte die gleiche hohe, glatte Stirn und auch ihr weiches Haar. Ihre Züge waren hübscher, doch fehlte ihnen Margarets ausgeprägte Individualität. Allein schon deswegen wirkte sie nicht so attraktiv auf Rathbone.
    Die älteste Schwester, Celia, war schon früher gekommen und saß gegenüber ihrem Mann, George, auf dem Sofa. Sie war die Hübscheste von den dreien. Ihre dunklen Haare und Augen waren wunderschön, doch Rathbone fiel auf, dass sie begann, um die Taille etwas fülliger zu werden, obwohl sie für seinen Geschmack ohnehin schon zu drall war. Die Diamanten an ihren Ohren hatten bestimmt so viel wie zwei Kutschenpferde gekostet, wenn nicht noch mehr.
    Mrs Ballinger löste sich aus der Umarmung ihrer mittleren Tochter und eilte nach vorn, um Margaret zu begrüßen, die Letzte der drei, die in den Ehestand getreten war, aber auch diejenige, die die beste Partie gemacht hatte. Rathbone hatte nicht nur Geld, sondern auch einen Titel; obendrein war er eine höchst angenehme Erscheinung.
    Sie empfing ihn aufs Herzlichste. »Wie schön, dich wiederzusehen! Ich bin ja so froh, dass dir deine Verpflichtungen Zeit für ein wenig Vergnügen erlauben. Margaret, meine Liebe, du siehst bezaubernd aus!« Sie küsste Margaret auf beide Wangen und reichte Rathbone die Hand.
    Einen Moment später hatte Ballinger den Anwalt erreicht und schüttelte ihm die Hand mit festem Griff. Seine Augen waren allerdings verhüllt und gaben nichts preis, keine Verletzlichkeit, keinerlei Hinweise auf seine Gedanken. War er schon immer so gewesen, oder bemerkte Rathbone das erst jetzt, nach Phillips’ Tod und Sullivans Beschuldigungen?
    Sie hatten kaum Zeit, Höflichkeiten auszutauschen und sich nach Gesundheit und gesellschaftlichen Verpflichtungen der letzten Zeit zu erkundigen, als auch schon das Diner angekündigt wurde. Es war im gewaltigen, prunkvollen Speiseraum mit seinen leuchtend rotbraunen Wänden, seinen glitzernden Lüstern und den

Weitere Kostenlose Bücher