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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Geruch von Angst und Tod.
    Mickey Parfitt war ein weiterer Jericho Phillips, einer von vielen, nur dass er seine Kundschaft ein Stück stromaufwärts bediente, weiter entfernt von der wimmelnden Enge des Hafenviertels. Hier oben boten sich die abgelegenen Bereiche des Flusses an, wo über den verlassenen, sumpfigen Ufern morgens wie abends der Nebel hing und wo das silbern glänzende Wasser von Bäumen gesäumt wurde. Doch in der Nacht wurden Kinder mit derselben Brutalität misshandelt. Und wahrscheinlich wurde auch genau dieselbe Art der Erpressung gegen Männer angewandt, die süchtig waren nach ihrem eigenen Verlangen, nach den Gefahren bei der gesetzeswidrigen Lustbefriedigung, nach dem durch ihre Blutbahn strömenden Adrenalin, sobald die Angst vor der Entdeckung sie packte. Wie Phillips’ Kunden waren sie von Achtlosigkeit gegen jene erfüllt, die sie schändeten, was wohl noch durch den Umstand verstärkt wurde, dass es sich bei ihren Opfern um von der Gesellschaft vergessene, verlassene Straßenkinder handelte.
    Wollte Monk wirklich wissen, wer Mickey Parfitt getötet hatte? Eigentlich nicht. Das war einer der Fälle, bei denen er am liebsten scheitern würde. Aber konnte er es darauf ankommen lassen, es einfach nicht zu versuchen? Das war eine ganz andere Sache. Dann würde er die Aufgaben des Richters und der Geschworenen in sich vereinen. Bezüglich Parfitt war er sich zwar sicher, doch wie sähe es mit dem nächsten Opfer aus? Und dem übernächsten? Konnte Monk sich wirklich anmaßen zu entscheiden, welcher Mord hinnehmbar war und welcher einen Prozess und Bestrafung verdiente? Er hatte in seinem Leben zu viele Fehler gemacht, um eine solche Gewissheit für sich zu beanspruchen. Oder sprach hier die Angst des Feiglings vor der Verantwortung, der lieber die Entscheidung anderen überließ und damit auch nicht schuldig werden konnte? Nun, man bekam vielleicht keine Alpträume – nur hatte man dann auch nichts unternommen.
    »Wo fangen wir an?«, fragte Orme leise, als der Lichtschein am Himmel breiter wurde.
    Ein Verband von Bargen glitt langsam stromaufwärts heran.
    Monk gab keine Antwort.
    »Mir geht’s genauso«, murmelte Orme fast unhörbar.
    Monk blickte ihn von der Seite an. Zorn und Kummer zeigten sich auf Ormes Gesicht. Die zwei Männer kannten einander noch nicht sehr gut. Es war eine weite, langsame Reise, die sie gerade erst begonnen hatten, doch Ormes Vertrauen war Monk ungemein wichtig.
    »Finden Sie mehr über ihn heraus«, sagte Monk zögernd, nach Worten suchend. »Vielleicht rechtfertigt sein Tod das, vielleicht nicht. Es könnte ein Rivale gewesen sein. Wer war der Hintermann? Wer hat das Geld reingesteckt – oder herausgenommen? Hat auch er Menschen erpresst?«
    Orme nickte langsam, während die Anspannung von seinen Zügen abfiel. Hastig blickte er Monk an, dann wieder auf das Wasser hinaus.
    »Aber gönnen Sie sich erst mal ein Frühstück und eine Mütze Schlaf.« Monk schickte seinem Befehl ein knappes Lächeln hinterher. »Wärmen Sie sich auf.«

3
    Oliver Rathbone wartete im Gesellschaftszimmer darauf, dass Margaret herunterkam. Sie waren von ihren Eltern zu einem Essen eingeladen worden, und wie immer war das ein ziemlich förmlicher Anlass. Margarets zwei Schwestern und deren Ehemänner würden ebenfalls kommen.
    Er trat ans Flügelfenster und starrte auf den Garten hinaus, der allmählich im Dämmerlicht versank. Die Septembersonne schien warm auf die letzten Blumen in ihren Beeten: alle lila und golden, Herbstfarben. Es war die prächtigste Jahreszeit; bald würden die Blätter entflammen. Beeren würden reifen. Rauch aus den Kaminen und Morgenfrost waren nicht mehr weit entfernt. Rathbone empfand in dieser Herrlichkeit immer auch einen Hauch Traurigkeit, ein Wissen um Zeit und Wandel und eine Erinnerung daran, dass Schönheit etwas Lebendes, Zartes ist, etwas Verletzliches, ja Sterbliches.
    Heute würde er zum ersten Mal seit dem Wassertod der zwei Männer am Execution Dock mit Arthur Ballinger speisen. Ihm graute davor, doch es ließ sich nicht vermeiden. Ballinger war sein Schwiegervater, und Margaret stand ihrer Familie ungewöhnlich nahe.
    Sullivan hatte auf abscheuliche Weise klargemacht, dass er Ballinger die Schuld an seinem Niedergang gab. Allerdings hatte er keine Beweise geliefert, sodass Rathbone in rechtlicher und moralischer Hinsicht die Hände gebunden waren. Die Beschuldigungen waren nichts als die Worte eines Verzweifelten, der unwiderruflich Schande

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