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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Einer hat ihm irgendwas übergezogen, zwei andere haben ihn erdrosselt. Das würde die merkwürdigen Spuren erklären. Vielleicht war es gar kein Seil. Könnte doch sein, dass die Jungs Hemden zusammengeknotet haben.« Er drehte sich zu Monk um. Seine Züge wirkten im Laternenlicht gespenstisch. »Dann dürften sie verschwunden sein, und zwar spurlos.« Alle Emotionen, die die unausgesprochene Bedeutung seiner Worte barg, lagen in seiner Mimik.
    »Dann wäre jede Fahndung zwecklos«, stimmte ihm Monk zu. »Mord durch Unbekannte.« Er holte tief Luft. »Aber wir sollten uns besser vergewissern. Unten werden sicher Räume für sie sein. Und dazu etwas wie eine Kombüse. Irgendwie müssen sie sie schließlich ernährt haben.«
    Orme gab keine Antwort.
    Sie fanden die Leiter nach unten und stiegen ein Deck tiefer. Schlagartig änderte sich die Atmosphäre. Schwere, stinkende Luft hüllte sie ein, und die Laterne erhellte dunkle Wände, zwischen denen nur wenige Fuß Abstand waren. Monk spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren brach und gleich darauf ein kalter Schauer über die Haut jagte, als wäre ihm plötzlich ein Windstoß entgegengeschlagen, doch tatsächlich regte sich hier unten kein Lüftchen – im Gegenteil, es war zum Ersticken schwül. Das Herz pochte ihm bis an den Hals.
    Orme versuchte es mit der ersten Tür. Sie gab nicht nach. Im nächsten Moment hob er den Fuß und trat mit aller Kraft dagegen. Sie zerbarst. Aus dem Raum dahinter drang ein Schrei. Orme hielt die Laterne höher. In ihrem gelben Licht kamen vier kleine Jungen zum Vorschein, allesamt mager, mit schmaler Brust, halb nackt und in der Ecke aneinandergekauert.
    Monk fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er musste sich zwingen, das alles zu erfassen.
    »Alles ist gut«, erklärte er leise. »Niemand tut euch was. Parfitt ist tot. Wir bringen euch jetzt weg von hier.« Er trat näher.
    Alle vier Jungen wichen noch weiter zurück, obwohl der Abstand auch schon vorher zu groß gewesen war, um einen von ihnen zu berühren.
    Monk verharrte. Was konnte er ihnen sagen, damit sie ihm glaubten? Und wohin sollte er sie schicken? Zurück in die Gosse? In irgendein Waisenhaus? Aber wer würde sich dort um sie kümmern? Vielleicht hatte Hester eine Idee.
    »Ich tue euch nichts«, wiederholte er. Die eigenen Worte kamen ihm hohl vor. Die Jungen würden ihm nicht glauben, und das sollten sie auch nicht. Vielleicht sollten sie keinem Menschen glauben. »Sind noch mehr von euch da?«
    Einer nickte langsam.
    »Wir holen euch alle raus und bringen euch dann an Land.« Bloß wohin? Und wie viele Boote würden sie benötigen? Inzwischen war es Nacht; was sollte er mit ihnen anfangen? Ein Dutzend oder noch mehr kleine Jungen, verängstigt, hungrig, möglicherweise krank und mit Sicherheit schrecklich missbraucht. Dann fiel ihm Durban wieder ein, sein verstorbener Vorgänger, der so vieles für Opfer von Gewalt getan hatte, und der Gedanke an ihn weckte die Erinnerung an das Heim für Findelkinder. »Wir bringen euch an einen Ort, wo man euch versorgen wird«, versprach er mit entschiedener Stimme. »Dort werdet ihr warme Kleider, Essen und ein Bett bekommen.«
    Sie starrten ihn an, als hätten sie keine Ahnung, wovon er redete.
    Es dauerte den ganzen Abend, bis sie alle vierzehn Jungen gefunden, sie in mehreren Bootsladungen ans Ufer geschafft und sie davon überzeugt hatten, dass sie wirklich in Sicherheit waren. Zu guter Letzt brachten sie sie in das nächste Krankenhaus, das bereit war, sie aufzunehmen. Später würden sie sie in eine Institution für Findelkinder schicken. Formal gesehen waren sie bereits zu alt für eine solche Maßnahme, doch Monk setzte sein Vertrauen in die Nächstenliebe der verantwortlichen Schwestern.
    Bleich dämmerte der Morgen im Osten und warf seine weichen, gleich wieder verblassenden Farben auf das klare, kalte Wasser, als Monk gemeinsam mit Orme auf den Steg vor der Wache Wapping der Londoner Wasserpolizei trat. Er war so müde, dass ihm die Knochen wehtaten und er fror. Wie ihm jetzt klar wurde, hatte er sich in den drei Wochen seit Jericho Phillips’ Tod zumindest von einem Teil des Grauens ganz langsam lösen können. Doch nun war mit einem Schlag das Entsetzen wieder zurückgekehrt, als hätte er es erst gestern erlebt. Das Grauen verbarg sich im Gestank nach Schweiß und Alkohol, in der Klaustrophobie unter Deck, doch war es jetzt heftiger und realer als alles andere, es füllte Nase und Kehle und verströmte den

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