Einer trage des anderen Schuld
Hester.
»Wieder Alpträume?«, erkundigte er sich.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich dachte mir schon, dass ich dich wahrscheinlich wecken würde, aber ich konnte ihn nicht damit alleinlassen. Darum knallte ich die Tür zu und …«
»Du musst das nicht erklären«, unterbrach Monk sie. Für einen Moment milderte die Ahnung eines Lächelns die scharfen Züge seines kantigen Gesichts, nur um gleich wieder zu verschwinden. Er wirkte düster, voller Schmerzen, mit denen er nicht umzugehen wusste.
Hester war es klar, dass er wieder an diese schreckliche Nacht auf dem Fluss dachte, als Jericho Phillips Scuff verschleppt hatte, um Monk daran zu hindern, die Ermittlungen gegen ihn abzuschließen, was mit Sicherheit seinen Tod durch den Strick bedeutet hätte. Und fast wäre ihm sein teuflisches Vorhaben auch gelungen. Wäre nicht Snoot, Suttons kleiner Hund, gewesen, hätten sie den Jungen nie entdeckt.
»Er hat immer noch Angst«, sagte Hester leise. »Er weiß, dass Phillips tot ist – schließlich hat er die Leiche in diesem Käfig selbst gesehen. Aber es gibt andere Leute, die dasselbe tun, andere Boote auf dem Fluss, die Jungen für Pornografie und Prostitution benutzen – Jungen, genau wie ihn und seine Freunde. Menschen, denen wir nicht helfen können. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll, denn er ist zu klug, um tröstliche Lügen zu glauben. Abgesehen davon will ich ihn sowieso nicht anlügen. Dann würde er mir überhaupt nicht mehr vertrauen. Ich wünschte, ihm würde nicht so viel an den anderen Jungen liegen, aber andererseits fände ich es entsetzlich, wenn für ihn Sicherheit nur ohne den Blick zurück in die Vergangenheit möglich wäre. Er glaubt, dass wir ihm nicht helfen können.« Sie blinzelte heftig. »William, Eltern sollten in der Lage sein zu helfen. Dazu sind sie doch da! Scuff ist zu jung, um sich der Realität zu stellen, die viel zu oft sogar uns überfordert. Ihm muss es so vorkommen, als ob wir es erst gar nicht versuchten, als ob wir uns einfach in die Niederlage fügten. Er versteht nicht einmal, warum er sich so schuldig fühlt, und glaubt, er würde die Opfer durch sein Wohlergehen, durch Vergessen verraten. Und auch wenn wir beteuern, dass er uns bestimmt nicht gleichgültig geworden ist, wird er uns nicht glauben.«
»Ich weiß.« Monk holte tief Luft und ließ sie langsam entweichen. »Und das ist nicht der einzige Aspekt des Problems.«
Hester wartete. Ihr Herz klopfte heftig, und sie spürte einen Knoten im Hals, der ihr die Luft abschnürte. Bisher hatten sie vermieden, es auszusprechen: Ihre ganze Zeit und all ihre Emotionen galten Scuff. Doch sie hatte gewusst, dass es irgendwann ans Tageslicht drängen würde. Jetzt betrachtete sie die von Anspannung herrührenden Furchen auf seiner Stirn, die Schatten um seine Augen, die hohen Wangenknochen. All das zeugte von einer Verletzlichkeit, die nur sie verstehen konnte.
War es wirklich vorstellbar, dass Margarets Vater die treibende Kraft und der Geldgeber von Jericho Phillips’ Gräueltaten gewesen war? Hester wünschte sich so sehnlich, Monk würde ihr sagen, das alles wäre nicht wahr.
»Du hast gehört, was Rathbone über Arthur Ballinger und Phillips berichtet hat?«, fragte er laut.
»Ja. Hat er noch mehr dazu gesagt?«
»Nein. Ich nehme an, es wurden keine rechtlichen Schritte unternommen; sonst hätte er sich dazu geäußert. Dann hätte er keine Wahl gehabt.«
»Du meinst, es gibt keine Beweise, nur Sullivans Wort – und der ist ja tot?«
»Genau.«
»Aber du glaubst es?« Auch das war eigentlich keine Frage. Wenn Monk Sullivans Anschuldigung für eine Lüge gehalten hätte, müssten sie sich jetzt nicht diesem unausweichlichen Schmerz aussetzen.
»Natürlich glaube ich das«, antwortete er sehr leise. »Rathbone glaubt es. Und kannst du dir vorstellen, er würde ihn verdächtigen, wenn es im Himmel oder in der Hölle einen Weg gäbe, das zu vermeiden?«
»Nein.« Das Bild Oliver Rathbones erstand vor ihren Augen. Er war nun schon so lange mit Monk und ihr befreundet. An seiner Seite hatten sie so viele verzweifelte Schlachten um Gerechtigkeit ausgefochten, oft unter Gefahren für ihren Ruf, ja, ihr Leben. Endlose Nächte hatten sie sich auf der Suche nach Lösungen um die Ohren geschlagen, gemeinsam hatten sie Siege errungen und Katastrophen durchgestanden, sich dem Entsetzen gestellt, das Trauer, Mitleid und Desillusionierung mit sich brachten. Rathbone hatte Hester einmal geliebt,
Weitere Kostenlose Bücher